Soldat mit Gewehr in der Hand
APA/AFP/Louis Robayo
Lateinamerika

Kartelle als Krisengewinner

In Lateinamerika steigt die Zahl der Coronavirus-Infektionen weiterhin drastisch. In Kolumbien, Mexiko und Brasilien kämpfen allerdings nicht nur die Regierungen gegen die Coronavirus-Krise, sondern auch kriminelle Kartelle. Ihre Maßnahmen sind jedoch oft so tödlich wie das Virus selbst. Dennoch könnten sie als Gewinner aus der Krise hervorgehen.

In Kolumbien ergriff die Regierung zwar rigorose Maßnahmen zur Eindämmung der Coronavirus-Krise, weitaus strengere Ausgangsbeschränkungen wurden jedoch illegalerweise seitens bewaffneter Gruppen erlassen, wie aus einem neuen Bericht der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch (HRW) hervorgeht. Laut „Washington Post“ („WP“) ist es Teilen der Bevölkerung unter keinen Umständen erlaubt, nach der Sperrstunde das Haus zu verlassen – nicht einmal für medizinische Notfälle.

Die Einhaltung der willkürlichen Maßnahmen wird gewaltsam überwacht und kann nicht zuletzt mit dem Tod enden: „Wer sich nicht an die Regeln hält, wird bedroht, attackiert oder getötet“, so HRW. Angedroht wurden die neuen Regeln per WhatsApp oder durch Flugblätter, die an die Bevölkerung verteilt wurden. In einem dieser Flugblätter heißt es beispielsweise: „Entweder du gehorchst oder du stirbst.“ Die Kartelle rechtfertigten sich damit, dass sie gezwungen seien, Menschen zu töten, um Menschenleben zu retten.

Soldat mit Maske und Gewehr
APA/AFP/Raul Arboleda
Kolumbianische Soldaten überwachen die von der Regierung verhängte Quarantäne

Tod als „Strafe“

HRW dokumentierte in der Zeit zwischen März und Juni zumindest neun Morde, die in Zusammenhang mit Übertretungen der Maßnahmen stehen. Die „Washington Post“ berichtete vom Fall einer 28-Jährigen und ihres Freundes, die mehrmals angeschossen worden seien, weil sie sich nach der Sperrstunde noch außerhalb ihres Zuhauses aufhielten. Ähnlich soll es einer Gruppe von Venezolanern ergangen sein, die sich trotz Ausgangsbeschränkung in der Öffentlichkeit getroffen hatten und erschossen wurden.

Paramilitärische Gruppen, Guerillas und Drogenkartelle

Zu den an den Verbrechen beteiligten Gruppen zählen in Kolumbien HRW zufolge die linke Nationale Befreiuungsarmee (ELN), die rechte paramilitärische Gruppe AGC sowie einzelne Gruppen, die aus der linken Ex-Guerillabewegung Revolutionäre Streitkräfte Kolumbiens (FARC) hervorgingen.

In Brasilien und Mexiko sind hingegen großteils Drogenkartelle aktiv, die ähnlich wie die paramilitärischen Gruppen in Kolumbien in ländlichen und ärmeren Regionen eine starke Kontrolle ausüben. Der gebürtige Mexikaner Oscar H. Fajardo sagt im Gespräch mit ORF.at: „Es ist eine Tatsache, dass in Mexiko einige Regionen nicht mehr vom Staat, sondern von Kartellen kontrolliert werden.“

Beobachter sehen Versagen der Regierung

Beobachter führen das Erstarken der Gruppen auf das Versagen der Regierungen zurück. HRW kritisiert, dass es den Regierungen nicht mehr gelinge, in ärmeren und entlegeneren Regionen Präsenz zu zeigen und gefährdete Bevölkerungsgruppen vor den kriminellen Kartellen zu schützen. Inmitten der Pandemie würden die Regierungen nun zusätzlich stark an Einfluss verlieren, Drogenbanden und Guerillagruppen nun gänzlich die Kontrolle übernehmen, schreibt das US-Magazin „Time“.

Marcela Torres vom Institut für Internationale Entwicklung an der Universität Wien sieht in der Intensivierung der Aktivitäten illegaler bewaffneter Gruppen historische Ursachen – etwa die unzureichende Umsetzung des 2016 erzielten FARC-Friedensabkommens sowie den Abbruch der Friedensverhandlungen mit der ENL-Guerilla. Der kolumbianischen Regierung sei es seither nicht gelungen, die Kontrolle über viele Gebiete des Landes wiederzuerlangen. „All diese Faktoren haben zu einer Reaktivierung der sozialen Dynamik in Kolumbien geführt, wo die Gewalt grausamer geworden ist“, so Torres gegenüber ORF.at.

Kolumbianische Soldaten überwachen die Straßen
APA/AFP/Louis Robayo
Der Regierung Kolumbiens gelingt es kaum, gegen bewaffnete Gruppen vorzugehen

Im „Chaos der Pandemie“

Zudem erschwere das „Übermaß an Konflikten, die Vielfalt der bewaffneten Akteure mit unterschiedlichen Agenden, die Konzentration der Regierung auf die Ausrottung des illegalen Kokaanbaus sowie mögliche Verbindungen zwischen illegalen bewaffneten Gruppen und politischen Sektoren“ die Bekämpfung krimineller Banden.

Die schwachen Regierungen der Länder können dem Erstarken der Kartelle also nur wenig entgegensetzen – bereits in der Vergangenheit sei es ihnen nicht gelungen, die Macht, die von diesen ausgehe, einzudämmen. Im „Chaos der Pandemie“ sei das nun noch weniger möglich, so „Time“. Das habe sich etwa auch darin gezeigt, dass es auf die von den bewaffneten Gruppen verhängten Maßnahmen so gut wie keine Reaktion gegeben habe.

Mutter mit Kind beide mit Masken gehen auf der Straße an einem Soldaten mit Maske und Gewehr vorbei
AP/Fernando Vergara
Während die Armee in Bogota, der Hauptstadt Kolumbiens, präsent ist, verliert die Regierung in ländlichen Regionen an Einfluss

Essen und Seife in Favelas verteilt

Die kriminellen Kartelle scheinen die Pandemie folglich erfolgreich für sich nutzen zu können. Dadurch, dass sie vorgeben würden, sich um das gesundheitliche Wohl der Bevölkerung zu sorgen, könnten sie ihre Machtbasis verfestigen – in einer Art und Weise, die permanent sein könnte, so „Time“. Um ihre Macht zu legitimieren und Loyalität in der Bevölkerung zu erwerben, würden die Kartelle den Menschen nun Ressourcen und öffentliche Dienstleistungen zur Verfügung stellen, wie „Time“ den Kolumbien-Experten bei HRW, Juan Pappier, zitiert.

So seien beispielsweise in den Slums Brasiliens und Mexikos von kriminellen Banden Pakete mit Grundnahrungsmitteln und Seife verteilt worden. „Wenn die Leute in Not sind und sehen, dass die Kartelle ihnen helfen, werden sie beginnen, Vertrauen zu den Kriminellen aufzubauen“, sagt auch Fajardo, der die neue Entwicklung in seinem Heimatland mit Besorgnis beobachtet.

Coronavirus-Krise als „PR-Möglichkeit“

Pappier sieht in der Pandemie eine „PR-Möglichkeit“ für die kriminellen Banden. Kämpfen sie gegen die Krise, erwecke das den Eindruck, „dass sie nicht nur für den Drogenhandel oder den illegalen Bergbau oder die Verbrechen da sind, sondern sich auch um das öffentliche Wohl kümmern“, sagt Pappier. Und weiter: „Es impliziert, dass sie die Verantwortlichen sind und die Bevölkerung ihre Regeln befolgen muss.“

Ähnlich argumentiert Lateinamerika-Expertin Gimena Sanchez-Garzoli: Es gehe den Kartellen darum, „soziale Kontrolle über die Bevölkerung auszuüben“, so Sanchez-Garzoli gegenüber der „Washington Post“. Ziel der Gruppen sei es, ihre Kontrolle über die für den Drogenhandel und den illegalen Bergbau wichtige Regionen auszuweiten.

Favela Pavao-Pavaozinhoin Rio de Janeiro
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Die Coronavirus-Krise könnte Millionen Menschen in die Armut stürzen – und dadurch die Zahl potenzieller Rekruten für bewaffnete Gruppen vergrößern

Armut als Nährboden für Kriminalität

Zudem würden das Virus nicht nur eine Gefahr für die eigenen Kämpfer darstellen, sondern auch für die Geschäfte, so „Time“. Schon jetzt führten die Beschränkungen unter anderem dazu, dass sich der Drogenhandel auf Seewege verlegt habe, wie aus einem UNO-Bericht hervorgeht. Pappier sieht jedoch noch eine weitere schwerwiegende Folge der Coronavirus-Krise: Durch die steigende Armut werde sich der Pool potenzieller Rekruten für bewaffnete Gruppen vergrößern. „Das Ausmaß der Armut, das wir nach dieser Pandemie erleben werden, wird es sehr einfach machen, Menschen zu illegalen Aktivitäten zu bewegen. Das ist das beste Umfeld für diese Gruppen, um zu gedeihen.“

Armut in Lateinamerika

Lateinamerika gilt als die Region mit der größten sozialen Ungleichheit weltweit. Die UNO-Wirtschaftskommission für Lateinamerika und die Karibik (CEPAL) prognostizierte zuletzt, dass die CoV-Krise weitere 45,4 Millionen Menschen in die Armut stürzen könnte. Ende des Jahres würden 37,3 Prozent der Menschen in der Region in Armut leben, 15,5 Prozent in extremer Armut.

Lateinamerika als ein Zentrum der Pandemie

War Lateinamerika anfangs lange von der Pandemie verschont geblieben, entwickelte es sich in den vergangenen Wochen zu einem neuen Zentrum. Mittlerweile gibt es fast sechs Millionen Infektionen und rund 300.000 Todesfälle – über 100.000 in Brasilien und über 55.000 in Mexiko. Laut Marcos Espinal, Direktor der Abteilung für übertragbare Krankheiten in der Panamerikanischen Gesundheitsorganisation (PAHO), ist Lateinamerika „zweifellos die am stärksten betroffene Region der Welt“.

Allein in Kolumbien könnten die Folgen der Pandemie dramatisch sein: „Die Einflüsse der Pandemie auf die lokale Wirtschaft, die schlechte Gesundheitsversorgung und die Eskalation der Gewalt in den Regionen des Landes werden zu verstärkten sozialen Ungleichheiten führen“, so Torres. Und weiter: Bereits vor der Pandemie sei es zu Demonstrationen gekommen, nach der Coronavirus-Krise würden diese „wahrscheinlich mit größerer Kraft zurückkehren“.