„Auf der Couch in Tunis“
Kazak Productions
Trauma und Humor

Ein ganzes Land liegt auf der Couch

Was passiert mit dem Gemüt eines Landes, das sich nach der Revolution neu finden muss? In „Auf der Couch in Tunis“ schickt Regisseurin Manele Labidi ganz Tunesien in Therapie – und schafft so ein vergnügliches Porträt einer Nation im Umbruch.

Gerade noch herrschte Chaos auf den Straßen von Tunis: Nachdem die Revolution im Dezember 2010 begonnen hatte, in deren Folge das autokratische Regime zusammenbrach und Tunesiens Beispiel den „arabischen Frühling“ ausgelöst hatte, war die Lage im Land lange labil. Männer verteidigten ihre Wohngegenden mit der Waffe in der Hand, während sie innerlich vor Angst fast vergingen. Es gab keine Polizei mehr, alle Behörden waren zusammengebrochen.

In „Auf der Couch in Tunis“ kehrt die junge französische Psychologin Selma (gespielt von Golshifteh Farahani) in ihr Herkunftsland Tunesien zurück, gerade als es wieder stabil ist – und just in dem Moment, als Tausende junge Leute versuchen, nach Europa zu gelangen. Ihre Nichte kann es kaum glauben: „Hast du Ärger in Paris? Hast du jemanden überfallen? Jemanden umgebracht?“

„Auf der Couch in Tunis“
Kazak Productions
Selma (Farahani) therapiert ihre Klientinnen und Klienten vor dem Panorama von Tunis – und Freud schaut zu

Therapie auf dem Flachdach

Aber nein, stimmt alles nicht: Selma hatte ihre Pariser Praxis in einer Straße, wo es fünf andere Psychologen gab. Jetzt will sie eben in Tunis arbeiten, wo es weniger Konkurrenz gibt, und stellt ihre Couch auf dem Flachdach ihrer Familie auf. Doch welcher Muslim würde sich freiwillig einer im säkularen Frankreich ausgebildeten Frau anvertrauen? Oder, wie Selmas Bruder sagt: „Das hier ist nicht Europa. Wir haben Gott, wir brauchen diesen Quatsch nicht.“

Bitte nicht noch ein Drama

Regisseurin Labidi ist in Paris geboren und aufgewachsen, als Tochter traditionsbewusster tunesischer Eltern. Sie hat den Spagat zwischen muslimischer Herkunft und säkularer Umgebung selbst erlebt und daraus das Drehbuch zu ihrem Debütfilm entwickelt, sagt sie gegenüber ORF.at: „Als ich meiner Mutter vor Jahren erzählt habe, dass ich zum Psychologen gehe, ihm alles erzähle über mich, mein Leben und unsere Familie, war sie sehr irritiert. Sie hat zu mir gesagt: ‚Aber Liebes, ich kann doch deine Therapeutin sein!‘ Du liebe Zeit, um nichts in der Welt!“

„Auf der Couch in Tunis“
Kazak Productions
Wer will hier reden? Im Beauty-Salon findet Selma Dutzende neue Kundinnen

Das Misstrauen gegenüber der Methode der Psychoanalyse, aus dem „Auf der Couch in Tunis“ einen Teil seines Humors bezieht, ist aber nicht speziell arabisch, darauf legt Labidi Wert. Im Gegenteil, die Nachfrage nach psychologischen Therapien sei groß, besonders in den Jahren nach der Revolution: „Tunesien hatte ja eine sehr starke Diktatur, und das hat sich über Nacht geändert. Als Reaktion haben viele Menschen Angstzustände bekommen, Depressionen, posttraumatische Belastungsstörungen wie nach einem Krieg oder einem Terroranschlag. Die Wartelisten in einem der größten psychiatrischen Spitäler in Tunis war sechs Monate lang.“

Natürlich wäre das alles als Stoff für ein Drama geeignet. „Aber um ehrlich zu sein, ich hab es satt, dass fiktionale arabische Charaktere immer dramatisch sind“, sagt Labidi. „Besonders in Frankreich sind arabische Frauen im Fernsehen und im Kino immer Opfer und zum Schleiertragen gezwungen, und Männer sind normalerweise ziemlich unangenehm zu ihnen.“ Solche Figuren seien viel eher politische und soziologische Behauptungen als echte fiktionale Charaktere.

Regisseurin Manele Labidi
Kazak Productions
Regisseurin Labidi

Die Quereinsteigerin

Regisseurin Labidi, geboren 1982 in Paris als Tochter tunesischer Eltern, war als Finanzanalystin erfolgreich – bis sie beschloss, das zu tun, was sie immer wollte. „Ich komme aus einer konservativen Familie, in der Studieren sehr wichtig war“, sagt sie, „aber Kunst und Kultur waren kein Teil unserer Welt, das habe ich erst in der Schule kennengelernt.“ Sie studierte auf Wunsch ihrer Eltern Politik- und Wirtschaftswissenschaften und arbeitete einige Jahre in der Finanzbranche, bevor sie sich dazu entschied, Filmemacherin zu werden. „Die Leute haben mir gesagt, dass ich spinne und dass ich es schon noch sehen werde – aber ich hatte nichts zu verlieren!“. „Auf der Couch in Tunis“ ist ihr erster Spielfilm.

Blick von außen

Labidi entwirft im speziellen gesellschaftlichen Kontext des nachrevolutionären Tunis eine hinreißende Komödie: Selma, der von ihrer Schwägerin vorgeworfen wird, sich wie eine Pariser Intellektuelle zu kleiden, ist in Tunis ein Fremdkörper. Sie raucht, trägt Männerhemden und wilde Locken, bleibt als Beobachterin immer im Hintergrund. Genau diese Fremdheit macht sie zur idealen Zuhörerin: Sie stammt aus dem Land, aber sie hat in Europa studiert und hat dadurch einen Blick von außen.

„Genau dadurch wird sie zur neutralen Zuhörerin für all diese Menschen, die zu ihr kommen“, so Labidi. „Sie wird nichts weitersagen, sie wird verstehen, sie wird Empathie haben, aber nicht verurteilen, was immer die größte Angst in dieser traditionellen Gesellschaft ist.“ Es geht im Film auch nur am Rande darum, was Selma widerfährt, die an der postrevolutionären Bürokratie und der albernen, gar nicht bedrohlichen Polizei fast scheitert. Ihre Geschichte ist der Rahmen für die vielen Geschichten jener, die bei ihr endlich zu reden anfangen.

Einer von ihnen ist ein Bäcker, der jahrelang davon träumte, mit arabischen Diktatoren zu schmusen, und nun von Putin träumt und völlig irritiert ist. Dann ist da die Beauty-Salon-Besitzerin, die bei Selma zum ersten Mal auszusprechen wagt, dass ihre Mutter ihr Brechreiz verursacht. Und es gibt einen liberalen Imam, der möglicherweise einen Selbstmordversuch hinter sich hat. Und dann ist da ein Mann, der Selma verdächtigt, für den Mossad zu arbeiten, und überall Mikrophone vermutet.

Reale Politparanoia

All diese Figuren haben reale Hintergründe, sagt Labidi: „Während der Diktatur konnte man zwar über den Alltag reden. Aber ich erinnere mich an Familienbesuche in Tunis, wo wir im Garten herumsaßen und ich nebenbei nach der politischen Lage fragte – und sofort hieß es: ‚Pst, pass auf, überall sind Mikrophone!’“ Als diese Bedrohung nach der Revolution weg war, war es, als hätten sich Schleusen geöffnet: „Die Leute begannen, wasserfallartig über alles und jeden zu reden. Auf einmal war jeder Politiker, alle hatten eine Meinung dazu, wie es mit dem Land weitergehen sollte, wer in der Regierung sitzen sollte.“

Von dieser plötzlichen Geschwätzigkeit handelt „Auf der Couch in Tunis“ auch – und davon, dass in einem Land unter so völlig neuen Umständen jeder Mensch einen Wandel durchmachen muss, damit der große Wandel gelingen kann. Bei der Premiere in Venedig bei den Giornati degli Autori bescherte das Labidi den Publikumspreis.