Simone Stribl im Gespräch mit der Parteivorsitzenden der NEOS, Beate Meinl-Reisinger.
ORF/Hans Leitner
„Sommergespräche“

Meinl-Reisinger gegen ‚Luxus der Bürokratie‘

Den Auftakt zu den „Sommergesprächen“ in einem Ausnahmejahr hat am Montag NEOS-Parteichefin Beate Meinl-Reisinger gemacht. Wenig überraschend steht heuer auch die Interviewreihe mit Moderatorin Simone Stribl ganz im Zeichen der Coronavirus-Krise. Was deren Bewältigung anbelangt, sparte Meinl-Reisinger nicht mit Kritik an der Regierung und deren Kommunikation. Sie forderte nun rasche Maßnahmen für neue Jobs. Auch den „Luxus einer überbordenden Bürokratie“ könne man sich aktuell nicht leisten.

„In Krisenzeiten braucht es einen Staat, auf den man sich verlassen kann, ein Sicherheitsnetz“, schlug Meinl-Reisinger eher ungewohnte Töne an. Man habe „wie in einem Brennglas gesehen, welche Ungerechtigkeiten es gibt. In der Gesellschaft, aber auch im System an sich“, rekapitulierte die NEOS-Chefin die Zeit des „Lock-down“ bei dem Gespräch im Weingut am Reisenberg in Wien. Es brauche nun ein „Neudenken dieser ganzen Systeme“, das Netz sei löchrig.

Meinl-Reisinger forderte nun rasche Maßnahmen zur Krisenbewältigung und zur Schaffung neuer Jobs: „Es braucht Mittel, damit die Wirtschaft wieder in Schwung kommt.“ Sie forderte Konjunkturpakete und ganz konkret eine Senkung der Lohnnebenkosten. Für jeden neuen Arbeitsplatz soll der Staat vorläufig bis Ende des Jahres die Lohnnebenkosten zur Hälfte übernehmen. Grundsätzlich forderte Meinl-Reisinger „weniger Bürokratismus“ und „mehr Mut zur Erneuerung“.

Junge und Frauen „doppelt“ belastet

Zusätzlich plädierte Meinl-Reisinger für eine aktive Arbeitsmarktpolitik, einen Strukturwandel und einen Ausbau der Bildungsmaßnahmen. Die Kurzarbeit sei ein wesentliches Element, sie hätte sich aber weniger Bürokratie und mehr Vorfinanzierung gewünscht. Man werde aber vor allem neue Jobs brauchen, eine romantische Vorstellung zur Rückkehr des einstigen Status quo werde sich nicht erfüllen.

Die Pandemie und die Rolle des Staates

Meinl-Reisinger zu den wirtschaftlichen Folgen der Pandemie.

Die NEOS-Chefin wies darauf hin, dass es in der CoV-Krise vor allem Junge und Frauen „doppelt schwer“ hätten. Pensionskürzungen zur Krisenbewältigung und zur Förderung der Jungen lehnte sie aber ab: Man müsse „nicht auf anderer Seite ein Problem schaffen“. Auf kurz oder lang werde man sich auch die Frage der Finanzierung stellen müssen und vor allem auf die Steuerseite schauen müssen.

Scharfe Kritik an „Halbwahrheiten“

Ihr sei von Anfang an klar gewesen, dass die Pandemie nicht nur gesundheitlich, sondern auch gesellschaftlich und wirtschaftlich schwerwiegende Folgen haben werde. Meinl-Reisinger kritisierte, dass die Regierung den Fokus zu lange auf gesundheitliche Kennzahlen gelegt und die gesellschaftliche Komponente vernachlässigt habe. Man habe von Anfang an gesagt „dass es eine Balance braucht. Es reicht nicht, dass das Gesundheitssystem nicht kippt, man muss auch schauen, dass die Kollateralschäden nicht zu schwerwiegend sind.“

Simone Stribl im Gespräch mit der Parteivorsitzenden der NEOS, Beate Meinl-Reisinger.
ORF/Hans Leitner
Auch beim heurigen „Sommergespräch“ gab es genug Distanz

Scharf kritisierte Meinl-Reisinger die Regierungskommunikation in der heißen Phasen des „Lock-down“, in der „Halbwahrheiten“ zu den geltenden Regeln kommuniziert worden seien. Es sei „eine Katastrophe, dass den Menschen nicht gesagt wurde, was erlaubt ist“. Sie verwies dabei darauf, dass sie selbst mehrfach für eigentlich erlaubte Aktivitäten – etwa eine Joggingrunde – kritisiert wurde.

Man habe mit den tief eingreifenden Maßnahmen eine heikle Verantwortung in die Hände der Regierung gelegt, es seien die drastischsten Eingriffe seit 1945 gewesen. Das sei erfolgt, um die Pandemie in Schach und das Gesundheitssystem am Laufen zu halten. Meinl-Reisinger betonte, dass sie im Parlament achtsamen und rechtskonformen Umgang von der Regierung gefordert hatte. Das sei „leider nicht passiert“, so die NEOS-Chefin mit Verweis auf den Verfassungsgerichtshof (VfGH), der Teile der Verordnungen aufgehoben hatte.

„Diskussionslos ins Private abgeschoben“

Ebenfalls empört zeigte sich Meinl-Reisinger darüber, dass Eltern, Kinder und vor allem Frauen in der Krise „völlig allein gelassen“ worden seien: „Alles wurde ins Private geschoben, und zwar diskussionslos.“ Viele Väter hätten sich sehr angestrengt, aber der Großteil der Last sei an den Frauen hängen geblieben.

Kritik zu Home-Schooling

Für Eltern und Kinder hatte der „Lock-down“ gravierende Folgen, so Meinl-Reisinger

Entsprechendes Augenmerk gelte es nun, auf die Schulen zu legen. Denn während des „Lock-down“ seien viele nicht erreicht worden, die Kluft habe sich weiter aufgetan. Für den Herbst forderte Meinl-Reisinger, dass die Schulen und Kindergärten über etwaige Schließungen selbst entscheiden können. Dabei soll „ein Schnupfen nicht zur Schließung der Schulen führen“. Sie forderte bei Verdachtsfällen eine stufenweise Absonderung möglicher Betroffener: erst der Verdachtsfälle, dann der Klassen bzw. Gruppen, und erst dann ganzer Schulen.

Sie forderte prioritäre Testergebnisse binnen 24 Stunden für Schülerinnen und Schüler sowie mehr Unterstützung für Pädagoginnen und Pädagogen. Keinesfalls soll es wieder zu flächendeckenden Schließungen wie in Oberösterreich kommen. Auf jeden Fall brauche es eine Strategie: „Viele Eltern, Lehrerinnen und Kinder haben echt Angst vor den Herbst, die wollen Klarheit haben.“

Grundsätzlich sollte bei Coronavirus-Maßnahmen zentral entschieden werden, was besser zentral entschieden werden kann, Selbiges gelte für regionale Entscheidungen. Das System der „Coronavirus-Ampel“ begrüßte Meinl-Reisinger, es gebe aber nach wie vor zu wenig Klarheit. Bezüglich des Gesundheitswesens sagte Meinl-Reisinger zu früheren Forderungen zur Reduktion von Spitalsbetten, dass man auch weiterhin Umstrukturierungen brauche. Es gebe zu wenig Zuwendung im Gesundheitssystem – eine Entlastung könne es etwa durch eine Förderung ambulanter Eingriffe geben.

Blick auf Wien-Wahl

Auch auf die kommende Wien-Wahl ging Meinl-Reisinger angesichts von Gerüchten über eine mögliche Dreierkoalition aus ÖVP, NEOS und Grünen ein. NEOS-Spitzenkandidat Christoph Wiederkehr hatte ja einer Koalition mit der ÖVP eine Absage erteilt, die NEOS-Chefin unterstützte diese Haltung. Man habe in Wien „Postenschacher, Intransparenz, Freunderlwirtschaft“ kritisiert und wolle das nun nicht durch „einen türkisen Postenschacher“ ersetzen. Explizite Kritik übte Meinl-Reisinger an Finanzminister Gernot Blümels (ÖVP) Auftritt im „Ibiza“-U-Ausschuss.

Wahlziel in Wien

Meinl-Reisinger über eine mögliche Dreierkoalition in Wien

Zu einer möglichen Koalition mit der ÖVP wollte sich Meinl-Reisinger nicht äußern, denn man habe ja keine Neuwahl. Sie kritisierte allerdings, dass die ÖVP Reformen blockiere: „Mut für Reformen gibt es nicht, es gibt nur Mut für den Machterhalt.“ Dass NEOS den Plafond bei Wählerstimmen erreicht habe, glaube sie nicht. Man brauche so viel, dass man „wirksam“ werde: „Wirksamkeit ist das Wahlziel.“ Einen abschließenden Reisetipp für den Österreich-Urlaub wollte die ausgebildete Fremdenführerin nicht geben, aber einen geharnischten Appell für eine rasche Reiseplanung: „Es wurlt ganz schön in Österreich.“

„Viel Konkretheit gefehlt“

Als „sehr allgemein und sehr sportlich“ bezeichnete Politologe Peter Filzmaier Meinl-Reisingers Auftritt in der anschließenden Analyse in der ZIB2. Ihm habe „viel Konkretheit gefehlt“. So seien bei der Kritik an der Bundesregierung keine Namen gefallen – der einzige Kritisierte sei Blümel gewesen, auch Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP) sei nur am Rande angegriffen worden. Mit „sportlich“ meine Filzmaier, dass Meinl-Reisinger „ein bisschen olympiareif im Zurückrudern beim Thema mehr oder weniger Staat“ gewesen sei. Die NEOS stünden eigentlich für mehr freien Markt und Leistungsprinzip, nun sei sie aber sehr für einen starken Staat gewesen. Filzmaier fügte aber hinzu, dass Meinl-Reisinger damit wohl den Stimmungsnerv der Bevölkerung treffe.

Analyse: Das Sommergespräch mit NEOS-Chefin Beate Meinl-Reisinger

Es analysieren der Politologe Peter Filzmaier und Petra Stuiber, die stellvertretende Chefredakteurin des „Standard“.

Laut Petra Stuiber, stellvertretende Chefredakteurin des „Standard“, habe Meinl-Reisinger ihren Auftritt „mittelgut genützt“. Meinl-Reisinger habe das NEOS-Prinzip der „konstruktiven Härte“ gut rübergebracht. Beim Frauenthema sah Stuiber noch Ausbaubedarf, gerade aufgrund des hohen weiblichen Wähleranteils bei NEOS. Überraschend sei gewesen, dass „Ibiza“ kein Thema war. Das hätte sie „proaktiv ansprechen müssen“, in diesem Punkt hätte NEOS gute Arbeit im U-Ausschuss geleistet. Grundsätzlich sei das NEOS-Thema Kontrolle zu wenig zum Tragen gekommen.