Einkaufsstraße Istiklal in Istanbul
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Geldreserven „verbrennen“

Erdogans riskante Strategie

Die türkische Wirtschaft hatte schon vor Ausbruch der Coronavirus-Pandemie Probleme. Doch mit der Pandemie ist der Tourismus, einer der wichtigsten Wirtschaftszweige und Devisenbringer, eingebrochen. Seit Monaten stützt die Nationalbank die türkische Lira mit Milliarden an Devisenverkäufen. Dahinter steckt letztlich eine riskante Strategie der Regierung von Präsident Recep Tayyip Erdogan.

Die „Financial Times“ fasste diese Woche die Vorgänge in einer Analyse so zusammen: „Erdogan wettet auf eine schnelle Erholung, während die Türkei ihre Devisenreserven verbrennt.“ Laut einer Schätzung der Investmentbank Goldman Sachs verkaufte die Nationalbank allein heuer bereits Devisenreserven im Wert von 60 Milliarden US-Dollar (51 Mrd. Euro). Denn das Anheben des Leitzinssatzes – eines der klassischen Mittel, um eine Währung zu stützen – ist politisch unerwünscht. Das machte Erdogan in den letzten Monaten immer wieder mehr als deutlich.

Seit Monaten ist die türkische Lira immer wieder unter Druck – ein Zeichen für Probleme der türkischen Wirtschaft und des Misstrauens von internationalen Investoren in den wirtschaftspolitischen Kurs Erdogans. Investoren hatten im letzten Jahr enorme Geldmengen wieder aus der Türkei abgezogen. Zuletzt war es der türkischen Notenbank wochenlang gelungen, trotzdem den Kurs zum Dollar stabil zu halten. Doch auch der Verkauf von Devisen in Milliardenhöhe konnte Ende Juli einen starken Kursrutsch der Lira in Richtung Rekordtief zum Dollar nicht verhindern – ein Hinweis darauf, dass diese Strategie nicht mehr greife, so die „Financial Times“.

Menschen auf dem Grand Bazaar in Istanbul
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Wenig los ist wegen der ausbleibenden Touristen auch im sonst überfüllten Großen Basar von Istanbul

Warnung vor „ungeordneter Abwertung“

Robin Brooks, Chefökonom des Institute of International Finance, einer Lobbyorganisation der Finanzindustrie, warnt bereits vor einer „ungeordneten Abwertung“ der Lira. Die Mischung aus hohem Leistungsbilanzdefizit (mehr Importe als Exporte, Anm.), milliardenschweren Verkäufen von Devisenreserven und dem Ankurbeln der Wirtschaft mittels billiger Kredite, erinnert ihn an 2018, als die Lira in der damaligen schweren Krise 30 Prozent ihres Werts verlor.

Der Absturz der Währung brachte damals türkische Unternehmen unter Druck, heizte die Inflation an und führte schließlich zu einer Rezession.

Die Notenbank senkte im Verlauf der letzten zwölf Monate den Leitzins um 15,75 Prozentpunkte. Die Kreditaufnahme stieg im gleichen Zeitraum um 24 Prozent – und ist damit so hoch wie seit 2013 nicht mehr. Brooks sieht daher nur eine Lösung: Die Vergabe billiger Kredite, befeuert durch Aufrufe der Regierung und eine entsprechende Leitzinspolitik der Notenbank, müsse enden.

Teures „Kaufen von Zeit“

Die „hochriskante Taktik“ der Türkei, so die „Financial Times“, setze auf das Szenario einer raschen Erholung der türkischen Wirtschaft und auch jener in den wichtigsten Exportmärkten.

Phoenix Kalen, Expertin für Schwellenmärkte bei der französischen Bank Societe Generale, betonte, dass die Stützung der Währung kombiniert mit billigen Krediten eine „passende Strategie“ sei, „wenn man davon ausgeht, dass die Folgen der Pandemie relativ rasch verschwinden werden“. Es sei zwar teuer, aber „es kauft Zeit“.

„Extrem anfällig“

Doch wenn dieses Szenario nicht eintritt und die Deviseneinnahmen aus Tourismus und Exporten nicht rasch wieder fließen, würde die Türkei „extrem anfällig“ für einen wirtschaftlichen Schock, so Kalen. Ein weiteres Jahr werde die Türkei ihre jetzige Strategie jedenfalls nicht durchhalten können.

Wegen der Lira-Käufe der türkischen Notenbank auf internationalen Märkten fielen laut „FT“ die Bruttowährungsreserven heuer auf 93 Milliarden Dollar – und davon sind 50 Milliarden geborgtes Geld. Das decke aber nur etwas mehr als die Hälfte aller Auslandsschulden des Landes ab, die in den nächsten zwölf Monaten fällig würden.

Murat Uysal
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Notenbankchef Uysal hat auf politischen Druck den Leitzins radikal gesenkt

Rückgriff auf Spareinlagen

Die Notenbank griff zur Stützung der Lira auf den 230 Mrd. Dollar hohen Berg an Devisenspareinlagen zurück, die türkische Bürgerinnen und Bürger in den Banken des Landes liegen haben.

Die Meinungen über die möglichen Folgen sind laut „FT“ geteilt. Einige Analysten zeigen sich demnach überzeugt, es könne so weitergehen, solange die türkischen Sparerinnen und Sparer nicht ihre Guthaben abziehen. „Theoretisch gibt es keine Grenze, solange die Notenbank es akzeptiert, hohe Devisenschulden zu haben“, zitiert das britische Finanzblatt einen türkischen Banker.

Warnendes Beispiel Libanon

Maya Senussi vom Beratungsunternehmen Oxford Economics etwa sieht das weniger gelassen: Es gebe keine Reserven, und die Notenbank gebe Reserven aus, die sie sich von den Banken borge. Und sie verweist auf das Beispiel Libanon: Dort habe sich gezeigt, dass die Schwäche der Notenbank zu einem Problem werde, sobald die Banken ihre Devisen einfordern, um die eigenen Schulden zu bedienen.

Wenn man Tauschgeschäfte, Gold und Kredite an nationale Banken abziehe, ist die Notenbank bei den Reserven bereits im Minus, sagen Analysten. „Bei dem Tempo, in dem die Reserven verbrannt werden, gehen wir davon aus, dass das Geld zum Sommerende oder Herbstanfang weg ist“, sagte Cristian Maggio vom Finanzdienstleister TD Securities.

Der Kursverfall der Lira erschwert es für die Regierung und viele Unternehmen des Landes, ihre häufig in Auslandswährungen aufgenommenen Kredite zurückzuzahlen. Die Ratingagentur S&P schätzt, dass mehr als ein Drittel aller Kredite in Fremdwährungen aufgenommen wurden. Das sei ein großes Risiko für die Banken des Landes.

Laut „Wall Street Journal“ hat Erdogans Regierung nur noch wenig Spielraum. Investoren würden mittlerweile befürchten, die Türkei könnte Kapitalkontrollen einführen, also das Abziehen von Geld durch Investoren oder eigene Bürger ins Ausland einschränken oder gar stoppen.

Szenario ohne zweite „Welle“

Die Notenbank beruhigt freilich und betont, es seien genügend Mittel vorhanden, um die Auslandsschulden bedienen zu können. Notenbankchef Murat Uysal räumte zuletzt zwar ein, dass es „Fluktuationen“ bei den Reserven gegeben habe, diese würden in der zweiten Jahreshälfte aber wieder aufgebaut werden, zeigte er sich überzeugt. Uysal erwartet demnach, dass sich Tourismus und Exportwirtschaft erholen werden. Denn die Notenbank geht davon aus, dass es keine zweite „Welle“ der Coronavirus-Pandemie geben wird.