Eine Frau passiert einen brennenden Müllberg auf dem Weg zur Kathedrale von Prot-au-Prince.
AP/Dieu Nalio Chery
CoV, Hunger, Hurrikans

Haiti kämpft an allen Fronten

Vor zehn Jahren hat ein Erdbeben Haiti in die Katastrophe gestürzt. Bis heute hat sich der Karibikstaat davon nicht erholt. Die Wirtschaft liegt am Boden, die Politik steckt in einer schweren Krise. Das Coronavirus breitet sich in dem armen Land aus. Nun steht auch noch die Hurrikansaison bevor.

Die Bilder von den Nachwehen des Bebens sind auch zehn Jahre später noch präsent, in Haiti haben sie sich ins kollektive Gedächtnis eingebrannt. Rund 316.000 Menschen starben, fast zwei Millionen verloren ihre Unterkunft. Selbst ein funktionierender Staat hätte die Folgen einer solchen Naturkatastrophe allein nicht bewältigen können.

In Haiti hatte das Beben Folgen bis heute – politisch, wirtschaftlich und gesellschaftlich. Choleraausbrüche waren eine unmittelbare Folge, ebenso wie Hunger, Obdachlosigkeit und Gewalt. Die Hilfe von außen war oft schlecht koordiniert, viele Zusagen wurden nie eingelöst. Das Land ist ein gescheiterter Staat, im „Fragile States Index“ der NGO Fund for Peace belegt es Platz 13 von 178.

Kaum Tests

Das Coronavirus, das die Vorgänge auf der ganzen Welt auf den Kopf stellt, ist in Haiti nur ein Problem von vielen. Laut Johns Hopkins University gab es nur rund 7.500 bestätigte CoV-Infektionen bei elf Millionen Einwohnern. Die Zahlen sind trotz kaum vorhandener medizinischer Hilfe niedrig. Die Menschen scheuen sich, medizinische Behandlung in Anspruch zu nehmen und fürchten die Quarantäne. Vor allem aber wird kaum getestet.

Ein Teil der Schäden nach dem Erdbeben am 21. Oktober 2010 in Haiti.
APA/AFP/Marco Dormino
Die Hauptstadt Port au Prince wurde vom Beben 2010 schwer getroffen

Die Sterbezahlen seien nicht drastisch nach oben gegangen, so eine Sprecherin der Welthungerhilfe gegenüber der ARD: „Wir haben auch keine Erklärung dafür. Es wird hier das Wunder von Haiti genannt, aber wir glauben nicht, dass das Risiko, die Pandemie, vorbei ist.“

Auch die UNO ist besorgt über das Virus in Haiti, denn sie rechnet mit dem Höhepunkt der Pandemie in den ärmsten Ländern der Welt erst in den kommenden Monaten. Wenn das Virus nicht unter Kontrolle gebracht werde, könnten 1,67 Millionen Menschen in 30 einkommensschwachen Ländern sterben – und Haiti zählt dazu.

Geld aus dem Ausland versiegt

Die Pandemie hat überdies direkte Folgen für die Wirtschaft des Landes. So gingen etwa die Überweisungen von im Ausland lebenden Haitianern drastisch zurück. Millionen von Ausgewanderten unterstützen sonst die Familien in der Heimat, sie arbeiten im Tourismus des Nachbarlandes, der Dominikanischen Republik, oder in den USA. Doch dort brachen die Jobzahlen ein und in der Folge auch die Zahlungen.

Rund 75 Prozent der Haitianer lebten schon vor der Pandemie von weniger als 1,75 Euro am Tag, die Hälfte der Bevölkerung von weniger als einem Euro. Für heuer wird eine Inflation von 22 Prozent erwartete. Ein Fünftel der Kinder sind chronisch unterernährt – Zahlen, die sich über Jahre kaum änderten. Die UNO erwartet, dass die Coronavirus-Krise die Krise in Haiti verschärfen und noch mehr Menschen in die Armut treiben wird.

Staat funktioniert nicht

Die Basis für die miserablen Entwicklungen bildet die schwere politische Krise, aus der sich Haiti nicht befreien kann. Seitdem die im vorigen Jahr angesetzte Parlamentswahl ausfiel, regiert Präsident Jovenel Moise per Dekret. Moise, der vor allem wegen der minimalen Wahlbeteiligung 2016 Präsident wurde, wird Korruption vorgeworfen. Er war in einen Skandal rund um Ölgelder verwickelt. Der Präsident bestreitet alle Vorwürfe. „Für ein Land mit einer Geschichte brutaler Diktatur, Staatsstreiche und zwielichtiger Wahlen ist die Möglichkeit einer Einmannherrschaft bedrohlich“, urteilte der „Economist“.

Diktatur in Haiti

Nach einem Militärputsch 1957 wird Armenarzt Francois Duvalier („Papa Doc“) Präsident und errichtet eine Familiendiktatur. Dabei installiert er ein Terrorregime mit Hilfe seiner Milizen, den „Tontons Macoutes“. Nach Duvaliers Tod 1971 wird dessen Sohn Jean-Claude („Baby Doc“) Präsident auf Lebenszeit. Nach einem Volksaufstand flüchtet Duvalier jr. 1986 ins Exil, die Armee übernimmt die Macht. Seit 1990 herrscht Demokratie.

Politisch hat Moise bisher wenig weitergebracht. Im Parlament hat er keine Mehrheit, seit 2017 hat er bereits eine ganze Handvoll an Premierministern verschlissen. Es gibt keinen aktuellen Staatshaushalt, die Verwaltung läuft mit einem Jahre alten Budget und ohne Inflationsbereinigung mehr schlecht als recht weiter.

Die Wut in der Bevölkerung ist groß, das Vertrauen in die Politik nicht vorhanden. Im vergangenen Jahr kam es immer wieder zu Protesten gegen Moise, die Inflation und die Lebensumstände. Sie wurden teilweise brutal niedergeschlagen. Moise hatte für 2020 eine neue ambitionierte Verfassung angekündigt, ein Vorhaben, das auch vor der Pandemie unwahrscheinlich erschien.

„Form des Staatsterrorismus“

Die UNO schaltete sich als Mediatorin zwischen Moise und der Opposition ein, bisher erfolglos. In der Zwischenzeit sind die Menschen weit verbreiteten Menschenrechtsverletzungen ausgesetzt, da bewaffnete Banden derzeit rund ein Drittel des Landes kontrollieren, so die Vereinten Nationen. Morde, Vergewaltigungen, Raubüberfälle stünden an der Tagesordnung. „Wir haben Todesgeschwader, eine Form des Staatsterrorismus“, so Marie Yolene Gilles, Vorsitzende der haitianischen NGO Fondasyon Je Klere.

Klimawandel trifft Haiti hart

Nun steht auch noch die Hurrikansaison bevor, die den karibischen Inselstaat mitunter hart trifft. 2016 wütete etwa „Matthew“, rund 800 Menschen kamen ums Leben. Durch den Klimawandel verstärkt sich die Verletzlichkeit Haitis. Das Land ist eines der weltweit am meisten von extremen Wetterphänomenen betroffenen Länder. 2019 belegte das Land Platz vier des „Climate Risk Index“ der NGO Germanwatch (Österreich Platz 51).

„Wenn es heftig stürmt und regnet, dann werden Menschen sterben, Häuser zerstört. Wenn man sie dann in Notunterkünfte steckt, dann gibt es nicht genug Platz, und damit steigt wieder das Infektionsrisiko“, so William Pape. Der Arzt leitet in Haiti den Kampf gegen das Coronavirus. Er fürchtet, dass die Hurrikansaison die Pandemie verschlimmern wird. „Ich denke, es ist die schwerste Krise, die ich je durchgemacht habe. Im Wesentlichen, weil es für uns zum schlimmsten Zeitpunkt kommt“, so Pape zum US-Sender PBS. „Nämlich zu einer Zeit, in der wir eigentlich fünf andere riesige Probleme haben, die ein eigenes Kapitel benötigen würden.“