Frau mit Mund-Nasenschutz
Reuters/Shannon Stapleton
Coronavirus

Das Problem der zweiten Welle

Ein Blick auf die weltweiten Coronavirus-Fallzahlen zeigt: Die Kurve geht weiterhin steil bergauf. Während man in Asien bereits von der dritten Welle spricht, wappnet man sich in Europa für die zweite Welle. Doch was ist mit dem Begriff überhaupt gemeint? Ab wann handelt es sich tatsächlich um eine zweite Welle? Und mit welchen Folgen? Die Meinungen dazu gehen weit auseinander. Auch in Österreich gibt es keine genaue Definition.

Veranstaltungen werden abgesagt, Diskotheken bleiben geschlossen, die Maskenpflicht ist teilweise wieder eingeführt, regionale „Lock-downs“ werden verhängt – in vielen europäischen Ländern werden die Coronavirus-Maßnahmen derzeit wieder verschärft – alles, um, wie Politiker und Politikerinnen stets betonen, gegen eine zweite Welle anzukämpfen.

Eine zweite Welle, die nach der Meinung einiger entweder „noch lange nicht“, „bald“ oder „in Kürze“ eintreten wird, nach der Meinung anderer wiederum bereits „kürzlich“ oder „längst“ eingetreten ist. Und dann gibt es noch Experten, die grundsätzlich vom Begriff einer zweiten Welle abraten, da diese ein falsches Bild vermitteln würde – vielmehr befände sich die Menschheit auf einer „Dauerwelle“, die auf- und abschwillt. So sprach etwa auch die Weltgesundheitsorganisation (WHO) Anfang Juli angesichts der steigenden Fallzahlen von einem „zweiten Höhepunkt der ersten Welle“.

Menschen in Japan
AP/Koji Sasahara
In Asien spricht man bereits von einer dritten Welle

Keine genaue Definition

Prinzipiell von Wellen sei wohl die Rede, weil die Fallzahlen oft in Kurven dargestellt werden, die wie Wellen aussehen, sagte Heiner Fangerau vom Institut für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin an der Uni Düsseldorf. Pandemien verliefen aber nicht zwangsläufig in Wellen.

„Die Pest grassierte im Mittelalter mehr als sieben Jahre lang, da kann man nicht von Wellen sprechen, und bei der Cholera auch nicht.“ Zurückzuführen ließe sich der Begriff der Welle wohl auf die Spanische Grippe, die zwar im Frühjahr 1918 ausbrach, bei der im Herbst und Winter allerdings mehr Menschen erkrankten als zuvor. Fakt ist: Der Begriff der Welle ist nicht genau definiert.

„Überdurchschnittliches Steigen der Infektionszahlen“

Fakt ist aber auch: In vielen Ländern kam es im Sommer nach einem kurzzeitigen Rückgang wieder zu einer Zunahme an Neuinfektionen und den damit verbundenen Todeszahlen. Oftmals wurde im Zusammenhang mit diesem erneuten Anstieg vor der zweiten Welle gewarnt.

Doch wie hoch müssen die Fallzahlen tatsächlich sein, um von einer solchen sprechen zu können? In welchem Zeitraum müssen die Infektionszahlen um welchen Faktor zunehmen? Und welche Rolle spielt die regionale Ausbreitung dabei? All diese Fragen scheinen noch offen.

Gesundheitsminister Rudolf Anschober (Grüne)
APA/Georg Hochmuth
Eine genaue Definition einer zweiten Welle, vor der u. a. Gesundheitsminister Rudolf Anschober (Grüne) warnt, gibt es nicht

Auch das Gesundheitsministerium verneint die Frage, ob es für eine zweite Welle eine konkrete Definition gibt. „Grundsätzlich ist damit ein überdurchschnittliches Ansteigen der Zahlen von mit COVID-19-infizierten Personen gemeint“, heißt es gegenüber ORF.at

RKI: Verschiedene Faktoren ausschlaggebend

Ebenso wenig bietet das deutsche Robert-Koch-Institut (RKI) eine Erklärung, allerdings heißt es auch hier: „Es muss damit gerechnet werden, dass die Fallzahlen wieder ansteigen können und es zu einer zweiten COVID-19-Welle kommen kann.“ Zumindest werden mehrere Faktoren aufgelistet, die eine solche begünstigen könnten.

So hänge eine zweite Welle etwa von möglichen saisonalen Effekten ab, also ob sich das Virus im Sommer aufgrund der höheren Temperaturen schlechter ausbreite. Auch die Einhaltung von Schutzmaßnahmen, das Reiseverhalten der Menschen sowie die schnelle Erkennung von Fällen, Clustern, Ausbrüchen und Kontaktpersonen seien ausschlaggebend. Experten gehen auch davon aus, dass sich das Virus im Winter, wenn wieder mehr Menschen eng in Räumen zusammen seien, leichter verbreite.

Umfrage zur zweiten Welle

Acht von zehn Befragten in Österreich rechnen einer Umfrage zufolge im Herbst oder Winter mit einer zweiten Welle.

Eine wichtige Rolle spiele aber vor allem das individuelle Verhalten. Ähnlich argumentiert man im Gesundheitsministerium: Um „Phase 4“, die die Gefahr einer zweiten Welle im Herbst meint, verhindern zu können, müsse die Bevölkerung „wieder stärker die Basismaßnahmen wie beispielsweise den Mund-Nasen-Schutz und den Mindestabstand einhalten“.

Drosten: Neue Dynamik bei zweiter Welle

Ohne diese Maßnahmen könne sich das Virus unkontrolliert weiterverbreiten, so das RKI. Durch die hohe Infektiösität des Virus sowie die fehlende Immunität in der Bevölkerung könne es „sehr rasch wieder zu einer exponentiellen Zunahme der Neuinfektionen und zu einer unter Umständen sehr starken zweiten Welle kommen“. Und weiter: „Auch mehrere nachfolgende Wellen unterschiedlichen Ausmaßes sind theoretisch denkbar.“

Einige Experten gehen davon aus, dass ein zweiter Ausbruch ab September deutlich schlimmer ausfallen könnte als der erste – unter anderem wegen des Zusammentreffens mit der Grippesaison. Zudem gibt es laut dem deutschen Virologen Christian Drosten noch einen weiteren entscheidenden Unterschied. Während bei der ersten Welle Ausbrüche lokal isoliert stattgefunden hätten und das Virus von außen in die Bevölkerung eingedrungen sei, könnten die Ausbrüche bei einer zweiten Welle an vielen Punkten gleichzeitig, aus der Bevölkerung heraus, einsetzen. Infektionen könnten folglich flächendeckender und zeitgleich auftreten, was es natürlich auch schwieriger mache, diese exakt nachzuverfolgen, so Drosten.

Einschränkende Maßnahmen „unbedingt verhindern“

Im Gesundheitsministerium beschreibt man die möglichen Folgen einer zweiten Welle folgendermaßen: „Schlimmstenfalls würde es zu einem unkontrollierten Anstieg von mit COVID-19-infizierten Personen und den daraus resultierenden Folgen (teilweise schwere Verläufe der Krankheit bzw. sogar Anstieg der Todeszahlen durch SARS-CoV-2, Auslastung der Kapazitäten der Gesundheitsbereiche) kommen.“

In diesem Fall wären „weitere, das gesellschaftliche Leben einschränkende, Maßnahmen möglich beziehungsweise nötig“. Das gelte es jedoch unbedingt zu verhindern, etwa durch Kontaktpersonenmanagement oder mit dem neuen Ampelsystem, an dem derzeit „mit Hochdruck“ gearbeitet werde.

„Nicht die Diskussion, die wir brauchen“

Gerade, wenn es aber zu neuen Einschränkungen komme, brauche es eine gültige Definition der zweiten Welle, heißt in einem Kommentar des „Spiegel“: Staatliche Eingriffe in Wirtschaft, Privatleben und Gesellschaft ließen sich nicht mit „diffusen Warnungen vor der ‚zweiten Welle‘ vorbereiten“. Man müsse wissen, was der Begriff konkret beschreibe, bevor es zu drastischen Eingriffen komme, die „das Tolerierbare sprengen“.

Anders sieht das WHO-Nothilfekoordinator Michael Ryan: „Wir können akademisch über eine zweite Welle streiten, aber das ist nicht die Diskussion, die wir brauchen.“ Es gehe darum, das Virus zu unterdrücken, mit allen dafür nötigen Maßnahmen, „Welle hin oder her“.