Demonstrantin im Libanon
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Schwere Krisen

Libanon als Land am Abgrund

Schon vor den verheerenden Explosionen in Beirut hat sich der Libanon in einer Abwärtsspirale befunden. Das Land steckt in der schlimmsten Wirtschaftskrise seit Jahrzehnten, die Pandemie verschärfte sie weiter. Die Wut der zum großen Teil jungen Bevölkerung ist enorm, die Armut weit verbreitet. Nun droht durch die Zerstörung des Hafens eine Hungerkrise.

Die Explosion in Beirut wird noch lange Folgen für das ganze Land haben. Die Hauptstadt liegt zur Hälfte in Trümmern, rund 300.000 Menschen sind obdachlos. Ohne umfangreiche Unterstützung scheint das Land nach Bürgerkrieg, Wirtschaftskrise und Pandemie allein nicht in der Lage, sich aus der Misere zu befreien.

Seit Herbst vergangenen Jahres gab es im Libanon wiederholt Massenproteste gegen Misswirtschaft und Korruption. Entzündet hatten sich die Proteste an der Ankündigung der Regierung, WhatsApp-Anrufe zu besteuern, wuchsen dann aber weiter an und richteten sich gegen die politischen Eliten und die grassierende Korruption. Die Demos hatten einen Regierungswechsel zur Folge, geändert hat sich aber nichts.

Teure, schlechte Lebensumstände

Die Regierung von Ministerpräsident Hasan Diab nahm erst im Jänner ihre Arbeit auf und bemüht sich seitdem um internationale Unterstützung. Das Land braucht laut Angaben der Regierung mehr als 20 Milliarden Dollar (rund 17 Milliarden Euro) Finanzhilfen. Elf Milliarden Dollar wurden dem Libanon bei einer Geberkonferenz 2018 in Paris zugesagt, wegen ausbleibender Reformen aber nicht ausgezahlt.

Satellitenaufnahme der zerstörten Hafens von Beirut (Libanon)
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Vom früheren Hafen Beiruts ist nicht mehr viel übrig

Als einer der ersten Schritte musste Diab erklären, dass der Libanon seine Kredite nicht mehr bedienen kann. Jetzt verhandelt seine Regierung mit den Gläubigern über eine Umschuldung, die wohl für die Bevölkerung weitere Einschnitte bedeuten dürfte.

Offiziellen Angaben zufolge leben inzwischen mehr als 45 Prozent der Libanesinnen und Libanesen unter der Armutsgrenze. Die Arbeitslosigkeit liegt bei 35 Prozent. Das libanesische Pfund stürzte in den vergangenen Monaten ab und verlor rund 80 Prozent seines Wertes im Vergleich zum Dollar, die Preise schossen in die Höhe. Tausende Unternehmen mussten schließen. Gleichzeitig wuchsen die Staatsschulden auf 90 Milliarden Dollar (82,09 Mrd. Euro) – das sind etwa 170 Prozent des Bruttoinlandsprodukts, eine der höchsten Raten weltweit.

Die Infrastruktur ist in vielen Bereichen marode, wie etwa die Stromversorgung, für die die Libanesen doppelt bezahlen müssen: Einmal an das Elektrizitätswerk – und dann für die Generatoren, die einspringen, wenn täglich der Strom ausfällt. Einige Landesteile waren in den vergangenen Wochen bis zu 20 Stunden am Tag von der Stromversorgung abgeschnitten. Die Unternehmensberatung McKinsey sieht den Libanon bei der Stromversorgung im weltweiten Vergleich auf dem viertletzten Platz. Nur in Haiti, Nigeria und im Jemen ist die Lage noch schlimmer.

Reformunfähigkeit der Politik

Am Tag der Explosion hatten erst Dutzende Demonstranten versucht, das Energieministerium in Beirut zu stürmen. Sie wollten den Eingang für 24 Stunden blockieren. Die Menschen forderten den Rücktritt von Energieminister Raymond Ghajar, das Energieministerium sei das „Hauptnest der Korruption“, hieß es.

Die Bestechlichkeit hat das Land tatsächlich seit Langem im Griff. Kürzlich trat sogar der libanesische Außenminister Nassif Hitti aus Protest gegen die Reformunfähigkeit der Regierung zurück. Der Libanon drohe, sich in einen „gescheiterten Staat“ zu verwandeln, sagte Hitti.

Starres System mit vielen Beteiligten

Reformen sind allerdings schwer in einem Staat, in dem Religionsproporz gilt. Der Präsident muss maronitischer Christ sein, der Premier Sunnit, der Parlamentspräsident Schiit sein. Das kleine Mittelmeer-Land hat nur sechs Millionen Einwohner, im Parlament sind aber 18 religiöse Gruppen vertreten, die auch bei der Regierungsbildung mitreden. Das starre System brachte schon zahlreiche Regierungskrisen mit sich. Viele Demonstrantinnen und Demonstranten gaben auch der religiösen und ideologischen Zersplitterung der herrschenden Klasse die Schuld an der Misere.

Proteste im Libanon
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Im vergangenen Herbst flammten Massenproteste auf, die jedoch durch die Pandemie gestoppt wurden

Das stark an den Konfessionen orientierte System besteht seit der Unabhängigkeit 1943. Nach dem Bürgerkrieg, der von 1975 bis 1990 dauerte, wurde das Ziel formuliert, das System zu überwinden. Doch es bestimmt bis heute die politischen Entscheidungsträger des Landes. Als Architekt des Wiederaufbaus nach dem Bürgerkrieg galt der frühere Premier Rafik Hariri, der 2005 durch einen Selbstmordanschlag in Beirut ermordet wurde. Sowohl dem syrischen Geheimdienst als auch der mächtigen schiitischen Hisbollah-Miliz im Libanon wurde vorgeworfen, an dem Attentat beteiligt gewesen zu sein.

Seit den Wahlen 2005 ist die Hisbollah an der Regierung beteiligt, doch ist sie im Libanon höchst umstritten. Kritiker werfen ihr vor, der verlängerte Arm des Iran und Syriens zu sein. Im Juli 2006 nahm die Hisbollah zwei israelische Soldaten gefangen und entfachte damit einen 34-tägigen Krieg mit Israel. Fast 1.400 Menschen starben, die meisten davon Libanesen.

Spitäler überfordert

Ein weiteres Problem für die Wirtschaft des Libanon sind die Folgen des syrischen Bürgerkriegs: Das kleine Land beherbergt rund 1,5 Millionen Geflüchtete aus dem Nachbarland, die eine große Belastung etwa für das Gesundheitssystem darstellen. Dieses steht ohnehin wegen der Coronavirus-Krise vor einem Kollaps.

Explosion in Beirut

ORF-Korrespondent Karim El-Gawhary über die Auswirkungen der Explosion in der Hauptstadt des Libanon.

Schon vor der Pandemie seien die Krankenhäuser in Beirut „völlig überlastet“ gewesen, sagte der Büroleiter der Friedrich-Naumann-Stiftung im Libanon, Kristof Kleemann, gegenüber Reuters. Hinzu komme, dass viele Krankenhäuser wegen der verheerenden Wirtschaftskrise in den vergangenen Monaten Personal hätten entlassen müssen. Nach den Hafenexplosionen seien „zum Teil gar keine Patienten mehr angenommen“ worden.

Kein Nachschub mehr möglich

Durch die Explosionen seien auch zehn Container mit wichtigen medizinischen Gütern und Medikamenten zerstört worden, die im Hafen von Beirut gelagert worden seien. Der Hafen, der als Lebensader des ganzen Landes gilt, wird nun auch andere Bereiche des Lebens nicht mehr versorgen können, es wurde bereits vor weiteren Versorgungsengpässen gewarnt. Der Libanon hängt stark von Lieferungen aus dem Ausland ab, die bisher hauptsächlich über den Hafen liefen.

„Wenn wir uns die Zerstörung dieser Silos anschauen, dann bedeutet das, dass wir auf eine Hungerkrise und Engpässe bei Brot zusteuern“, sagte der Analyst Makram Rabah gegenüber der dpa. „Diese Explosion ist der Sargnagel für die Wirtschaft des Libanon und für das Land im Allgemeinen.“