Zerstörte Straße im Hafengebiet von Beirut
Reuters/Mohamed Azakir
157 Tote in Beirut

Viele offene Fragen nach Katastrophe

Nach den verheerenden Explosionen in Beirut am Dienstag lässt sich mittlerweile vage rekonstruieren, wie es zu der Katastrophe gekommen ist. Viele Fragen sind aber noch offen, etwa jene, wie 2.750 Tonnen gefährliche Chemikalien jahrelang einfach in einem Lager liegen konnten. Inzwischen befinden sich Verantwortliche unter Hausarrest, die Regierung verhängte den Ausnahmezustand über die libanesische Hauptstadt.

Der Hausarrest für mehrere Hafenverantwortliche und der Ausnahmezustand, beide kontrolliert von der Armee, wurden am Mittwoch verhängt. Zuvor hatte es Berichte gegeben, wonach mehrfach davor gewarnt worden sei, dass das in der Halle im Hafen gelagerte Ammoniumnitrat zur Gefahr werden könnte. Der Hausarrest gelte für alle, die „mit der Lagerung, der Bewachung und der Dokumentation der explosiven Stoffe sei 2014 zu tun hatten“, berichtete die BBC am Donnerstag. So lange war das Material dort gelagert.

Bei zwei aufeinanderfolgenden Explosionen, von denen die zweite die weitaus stärkere war, waren am frühen Dienstagabend laut jüngstem Informationsstand mindestens 157 Menschen ums Leben gekommen und etwa 5.000 weitere verletzt worden. Große Teile des Hafens und umliegender Wohngebiete wurden zerstört. Beinahe die halbe Stadt sei betroffen, hieß es Mittwochvormittag. Bis zu 300.000 Menschen könnten ihre Wohnungen verloren haben.

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Libanesische Soldaten vor dem zerstörten Hafen in Beirut
AP/Hussein Malla
In Beirut gilt nach der verheerenden Explosion der Ausnahmezustand. Die Armee kontrolliert die Stadt.
Zerstörte Hochhäuser in Beirut
AP/Hussein Malla
Ein Mann fährt mit seinem Motorroller durch die Stadt, die nach der Explosion Erinnerungen an die Zerstörungen während des Bürgerkriegs weckt
Das zerstörte Hafengebiet in Beirut nach der Explosion
AP/Hussein Malla
Luftaufnahmen zeigen das Ausmaß der Zerstörung
Druckwelle der Explosion in Beirut
Reuters/Instagram/Ksokhn/Thebikekitchenbeirut
Die zweite Detonation verursachte eine gewaltige Druckwelle
Das zerstörte Hafengebiet in Beirut nach der Explosion
APA/AFP
Die Rettungs- und Bergungsarbeiten dauerten am Mittwoch noch an
Zerstörte Gebäude im Hafengebiet von Beirut
AP/Hassan Ammar
In den Straßen der libanesischen Hauptstadt herrschte nach dem Unglück Chaos
Feuerwehrleute löschen ein Brand im Hafengebiet von Beirut
APA/AFP
Die Explosionen in einem Lager im Hafen lösten Großbrände aus
Das zerstörte Hafengebiet in Beirut nach der Explosion
APA/AFP
Brände wurden von Hubschraubern aus bekämpft
Zerstörte Gebäude im Hafengebiet von Beirut
Reuters/Mohamed Azakir
Durch die Druckwelle wurden Fassaden weggerissen
Schutt auf einer Straße im Hafengebiet von Beirut
APA/AFP/Marwan Tahtah
Scherben und Trümmer in den beinahe leeren Straßen
Zerstörte Gebäude im Hafengebiet von Beirut
APA/AFP/Anwar Amro
Im Hafen brannten Schiffe aus
Zerstörte Gebäude im Hafengebiet von Beirut
AP/Bilal Hussein
Das ganze Ausmaß der Zerstörung zeigte sich erst Stunden nach der Katastrophe

Das „vergessene“ Chemielager

Am Donnerstag beschäftigten sich internationale Medien mit der Frage, wieso niemand auf das offensichtlich bekannte Risiko reagiert hatte. Woher das Ammoniumnitrat, das für die Herstellung von Kunstdünger gedacht gewesen sein soll, kam, war anfangs unklar, ist aber seit Mittwochnachmittag bekannt. Die Kurzversion: Es stammt aus Georgien und hätte per Schiff ins afrikanische Mosambik gebracht werden soll. Der russische Frachter unter moldawischer Flagge „strandete“ in Beirut, nachdem dem Betreiber das Geld ausgegangen war, es gab Streit mit der russisch-ukrainischen Crew, schließlich blieb die „MV Rhosus“ im Hafen von Beirut liegen.

Satellitenaufnahmen von Beirut vor (1.8.) und nach den Explosionen (5.8.) zeigen das Ausmaß der Zerstörung

Die libanesische Regierung beschlagnahmte die Fracht, sie landete zur Verwahrung in der Halle im Hafen. „Der Besitzer hat den Frachter praktisch sich selbst überlassen und sich für bankrott erklärt“, sagte der russische Marineexperte Michail Wojtenko dem Moskauer Radiosender Echo Moskwy. Beim Eigentümer soll es sich den Berichten zufolge um einen russischen Geschäftsmann mit Wohnsitz Zypern handeln.

„Schwimmende Bombe“

Fühlte sich danach einfach niemand mehr für die gefährliche Fracht zuständig? Gab es tatsächlich Warnungen? Wurden diese ignoriert? CNN zitierte am Donnerstag die libanesische Informationsministerin Manal Abdel Samad Nadschd mit den Worten, es habe einen Informationsaustausch dazu gegeben, dieser sei auch schriftlich belegt. Laut dem US-Sender wurde schon 2014 von dem Schiff als einer „schwimmenden Bombe“ gesprochen.

Laut einem Bericht der Nachrichtenagentur Reuters hätten später sogar Hafen- und Zollbehörde schriftlich um Entfernung der Chemikalienladung ersucht. Es seien allerdings keine Maßnahmen ergriffen worden. Der Generaldirektor des Hafens, Hassan Koraitem, sagte, das Material sei auf gerichtliche Anordnung hin in ein Lagerhaus gebracht worden. Man habe gewusst, dass das Material gefährlich ist, aber „nicht in diesem Ausmaß“.

Astronomische Schadenssumme

Nach den Explosionen nannte der Gouverneur von Beirut, Marwan Abud, gegenüber dem libanesischen TV-Sender MTV Zahlen zu bisher bekannten Schäden. 200.000 bis 250.000, im schlimmsten Fall 300.000 Menschen könnten mit einem Schlag obdachlos geworden sein. Die Höhe der durch die Katastrophe entstandenen Sachschäden schätzte Abud laut der staatlichen Nachrichtenagentur National News Agency (NNA) auf bis zu fünf Milliarden Dollar (knapp 4,25 Mrd. Euro). Es war auch die Rede von möglicherweise bis zu 15 Mrd. Dollar (rund 12,7 Mrd. Euro).

Die Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen (MSF) verglich die Situation im Libanon mit den humanitären Auswirkungen des libanesischen Bürgerkriegs. Angesichts der obdachlos gewordenen Menschen und der Angst vor Nahrungsmittel- und Medikamentenknappheit liege nach der Behandlung der Verletzten die nächste Priorität in der Bereitstellung von Nahrungsmitteln. „Wir haben während des Libanon-Krieges schwierige und ähnliche Erfahrungen gemacht“, sagte Mego Terzian, Präsident von MSF Frankreich. Bombenangriffe auf Benzinlager in der Nähe des Hafens während des Krieges von 1975 bis 1990 hätten „ähnliche Szenen hervorgerufen“ wie die Explosionen am Dienstag.

Macron kündigt internationale Hilfskonferenz an

Indes kündigte Frankreichs Präsident Emmanuel Macron eine baldige internationale Hilfskonferenz an. Die Hilfe an Ort und Stelle solle von den Vereinten Nationen und der Weltbank koordiniert werden, sagte er vor Medien in der libanesischen Hauptstadt. So solle sichergestellt werden, dass die Hilfe direkt die Bevölkerung erreiche.

Nachbarländer und auch mehrere europäische und arabische Staaten boten nach der Katastrophe umgehend Hilfe an. Aus Frankreich starteten Militärflugzeuge mit Notfallmedizinern, Zivilschützern und mehreren Tonnen medizinischem Material an Bord. Tschechien schickte Teams mit Suchhunden, die Niederlande entsandten Teams, die auf die Suche nach Verschütteten spezialisiert sind, in den Libanon, ebenso Griechenland. Am Donnerstag landete eine türkische Militärmaschine mit Rettungsteams, medizinischen Hilfsgütern und Zelten.

Auch Kuwait, Katar und Jordanien sagten medizinische Hilfe zu, etwa die Errichtung von Feldlazaretten als Unterstützung für die komplett überlasteten Krankenhäuser der Stadt. Selbst der Nachbar Israel, mit dem sich die Spannungen zuletzt wieder verschärft hatten, bot an, Verletzte im Land zu behandeln. Die USA schickten bereits Hilfsgüter in die libanesische Hauptstadt. Das Zentralkommando des US-Militärs berichtete von drei Flugzeugladungen mit Essen, Wasser und medizinischem Material. Genauere Angaben zu Menge und Produkten gab es zunächst nicht.

Kreuzfahrtschiff gesunken

Laut dem katarischen TV-Sender al-Jazeera rechnen sich die Suchteams immer noch Chancen aus – in der Nacht sei ein Kind lebend aus den Trümmern geborgen worden. Bei der Suche arbeiten Zivilschutz, Armee, Privatpersonen und Teams aus mittlerweile zahlreichen Ländern zusammen. Es sollen noch mehr als 100 Personen als vermisst gelten. Unter den Toten und Verletzten sind auch Ausländerinnen und Ausländer, aber keine aus Österreich. Jedenfalls seien beim Außenministerium bisher keine Hinweise darauf eingegangen, wie es am Donnerstag hieß.

Die stärkere der beiden Detonationen war im ganzen Land und selbst noch im 240 Kilometer entfernten Nikosia auf der Insel Zypern zu hören. Brände zerstörten Gebäude, viele sind einsturzgefährdet. Auch das Kreuzfahrtschiff „Orient Queen“, das im Hafen von Beirut lag, sank. Zwei Besatzungsmitglieder seien ums Leben gekommen, sieben weitere verletzt worden, teilte die libanesische Kreuzfahrtgesellschaft Abou Merhi Cruises mit, wie die NNA am Mittwoch meldete.

Satellitenaufnahme zeigt das umgestürzte Schiff „Orient Queen“ im Hafen von Beirut
APA/AFP/Satellite image ©2020 Maxar Technologies
Nach der Explosion sank auch das Kreuzfahrtschiff „Orient Queen“

Unglück trifft Land in schwieriger Lage

Der Libanon durchlebt derzeit die verheerendste Wirtschaftskrise seit Jahrzehnten. Fast die Hälfte der Bevölkerung lebt unter der Armutsgrenze. Seit Mitte Juni befindet sich das libanesische Pfund im freien Fall, die Arbeitslosenrate steigt. Der Libanon befand sich zwischen 1975 und 1990 im Bürgerkrieg. Aus Protest gegen wochenlange Stromausfälle hatten Demonstranten am Dienstag versucht, das Energieministerium in Beirut zu besetzen. In Teilen des Landes hatte es in den vergangenen Wochen bis zu 20 Stunden am Tag keinen Strom gegeben.

Schwere Explosionen in Beirut

Die libanesische Hauptstadt Beirut ist von zwei gewaltigen Explosionen im Hafen erschüttert worden. (Video: EBU, Reuters)

Gefährliche Chemikalie

Die Chemikalie Ammoniumnitrat, ein Salz aus Ammoniak und Salpetersäure, wird vor allem für die Herstellung von Kunstdünger, etwa Kalkammonsalpeter, aber auch von Sprengmittel (Donarit) verwendet. Die Substanz muss unter besonderen Vorsichtsmaßnahmen gelagert werden, bei Hitze kann sie sich entzünden. Bereits mehrfach war die Chemikalie Ursache von Unfällen, wurde aber auch für Terroranschläge verwendet.

Im Jahr 1921 starben in einem Werk des heute weltweit größten Chemiekonzerns BASF in der deutschen Stadt Ludwigshafen 561 Menschen. 2001 kamen bei der Explosion von rund 300 Tonnen Ammoniumnitrat in einer Chemiefabrik im französischen Toulouse 30 Menschen ums Leben, in Texas im Jahr 2013 bei einem Unfall in einem Düngemittelwerk 15. In den USA hatten schließlich auch die Attentäter von Oklahoma City für den Anschlag auf das Murrah Federal Building 1995 mit 168 Toten unter anderem Mineraldünger verwendet.