Russischer Impfstoff
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Experten besorgt

Russische CoV-Impfung in der Kritik

Russland hat als erstes Land der Welt einen Impfstoff gegen das Coronavirus für die breite Anwendung in der Bevölkerung zugelassen. Während man in Russland von einem großen Erfolg und historischen Moment sprach, zeigten sich Experten und Expertinnen weltweit besorgt. Denn weder gibt es fundierte Daten zu Wirksamkeit und Nebenwirkungen, noch wurden entscheidende Tests durchgeführt.

Die Geschwindigkeit, mit der Russland den Impfstoff einführt, unterstreicht Präsident Wladimir Putins Entschlossenheit im weltweiten Rennen um eine Coronavirus-Impfung. Experten und Expertinnen äußerten aber Bedenken, dass die Regierung Prestige vor fundierte Wissenschaft und Sicherheit stellt. Aufsichtsbehörden auf der ganzen Welt haben darauf bestanden, dass die Geschwindigkeit bei der Entwicklung eines CoV-Impfstoffs die Sicherheit nicht beeinträchtigt.

Der Verband zur Organisation klinischer Studien in Russland (ACTO), der internationale Pharmafirmen vertritt, hatte das russische Gesundheitsministerium sogar aufgefordert, die Zulassung des Impfstoffs zu verschieben, bis die finale klinische Wirksamkeitsstudie erfolgreich abgeschlossen sei. Eine Zulassung davor sei mit hohen Risiken verbunden.

Hand hält Impfstoff
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Prestige vor Wissenschaft und Sicherheit? Russland hat nach weniger als zwei Monaten Tests an Menschen die behördliche Impfgenehmigung erteilt

Zulassung widerspricht internationalem Vorgehen

Auch scheint es Publikationen weder über die Wirkung noch über mögliche Nebenwirkungen des Impfstoffs zu geben. In der weltweiten Literaturdatenbank für wissenschaftliche Artikel in der Medizin und Biologie, PubMed, existiert kein Eintrag zum russischen Impfstoff „Gam-COVID-Vac Lyo“.

Stufen der Zulassung

Bei der Entwicklung eines Impfstoffs setzt die Forschung auf ein Vorgehen in Stufen. In der Regel durchläuft ein Kandidat drei Phasen der klinischen Prüfung, bevor er zugelassen werden kann. Darin werden Verträglichkeit, Sicherheit, Wirksamkeit und Anwendungsschemata getestet und nach und nach immer mehr Probanden eingeschlossen. In der Phase III wird überprüft, ob ein Wirkstoff tatsächlich vor einer Infektion schützt und welche Nebenwirkungen auftreten.

Bekannt ist lediglich, dass der Impfstoff seit Mitte Juni an 38 Personen erprobt wurde, wie aus einer öffentlich einsehbaren Studie in der Datenbank ClinicalTrials hervorgeht. Auch veröffentlichte Russland bisher keine wissenschaftlichen Daten für eine unabhängige Bewertung. „Es gibt über das Projekt bisher keine genauen und verfügbaren Informationen. Daher kann ich dazu nichts sagen“, erklärte am Dienstag die Wiener Vakzinologin Ursula Wiedermann-Schmidt (MedUni Wien) gegenüber der APA.

Eine Zulassung vor dem Vorliegen der Ergebnisse großer klinischer Studien widerspricht dem international üblichen Vorgehen. So stellte die Weltgesundheitsorganisation (WHO) im Vorfeld klar: „Jeder Impfstoff muss natürlich alle Versuchsreihen und Tests durchlaufen, bevor er genehmigt und ausgeliefert wird.“ Es gebe klare Richtlinien für die Entwicklung von Impfstoffen. Die WHO forderte Russland auch auf, sich an diese Richtlinien zu halten.

Die WHO erinnerte aber auch daran, dass Russland eine „ausgezeichnete Tradition“ bei der Herstellung und Anwendung von Impfstoffen habe. Die WHO stehe in engem Kontakt mit den russischen Gesundheitsbehörden, sagte eine Sprecherin auf Anfrage. Sie kündigte an, alle Daten über die „Sicherheit und Wirksamkeit“ des russischen Impfstoffs genau zu überprüfen, bevor sie ihr grünes Licht geben werde.

Entscheidende Phase der Testung fehlt

Kritik gibt es aber vor allem an der Tatsache, dass die Zulassung noch ohne große Wirksamkeitsprüfung (Phase III) an mehreren Tausend Probanden erfolgte. Diese soll dem Gesundheitsministerium zufolge zwar noch ab Mittwoch an 2.000 Personen stattfinden, nach Behördenangaben beginnt die Impfung allerdings bereits im August oder September. Auch die industrielle Produktion soll im September starten.

Zuerst sollen Lehrer und Lehrerinnen sowie Ärzte und Ärztinnen geimpft werden. Die Bevölkerung soll bereits ab Jänner mit dem neuen Stoff geimpft werden, wie russische Agenturen unter Berufung auf das Arzneimittelregister des Gesundheitsministeriums berichteten.

Offiziellen Angaben zufolge sei der Impfstoff bisher in den vergangenen zwei Monaten aber erst an 50 Soldaten getestet worden. Die Genehmigung soll den Angaben nach daher auch nur vorläufig sein. Sie könne zurückgenommen werden, wenn der entwickelte Impfstoff am Ende nicht die gewünschte Wirkung hat.

Experte: „Hochriskantes Experiment am Menschen“

Der deutsche Präsident der Bundesärztekammer, Klaus Reinhardt, hält die Zulassung eines Impfstoffs ohne die entscheidende dritte Testreihe daher für ein „hochriskantes Experiment am Menschen“. Es sei „unverantwortlich, ganze Bevölkerungsgruppen bereits in diesem Stadium der Entwicklung zu impfen.“

Experte Kollaritsch zu Russlands Impfstoff

Infektiologe Herwig Kollaritsch, Mitglied des Corona-Beraterstabes von Gesundheitsminister Anschober (Grüne), kritisiert die angeblich zu kurze Testphase mit zu wenigen Versuchspersonen und die fehlenden Informationen über den Impfstoff.

Eine reguläre Zulassung ohne die umfangreichen Daten aus einer Phase-III-Prüfung mit mindestens mehreren tausend Probanden erscheine riskant, sagte auch Klaus Cichutek, Präsident des deutschen Paul-Ehrlich-Instituts für Impfstoffe und biomedizinische Arzneimittel. In der Etappe könnten unter anderem mögliche seltene Nebenwirkungen erkannt werden. Die Zahl der Probanden betrage in der Regel mehrere tausend bis zehntausende.

„Auch in der aktuellen Pandemiesituation ist es zwingend erforderlich, dass alle Prüfungen und Bewertungen mit der gleichen Sorgfalt erfolgen wie bei anderen Impfstoffen“, mahnte Cichutek. Zugelassen werden sollte ein Präparat nur dann, „wenn der gezeigte Nutzen mögliche Risiken deutlich überwiegt“. Bei dem Impfstoff in Russland lässt sich dies bislang nicht bewerten. In der EU sei eine Zulassung erst nach Vorlage aussagekräftiger Sicherheits- und Wirksamkeitsdaten üblich.

Vladimir Putin
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Putin verkündete bei einem virtuellen Regierungstreffen die Zulassung der weltweit ersten Coronavirus-Impfung

Die Pharmaexpertin Ayfer Ali von der britischen Warwick Business School sprach von einem Experiment mit der russischen Bevölkerung, Francois Balloux vom Genetik-Institut des University College London nannte die Zulassung eine „rücksichtslose und dumme Entscheidung“. Er sagte: „Eine Massenimpfung mit einem nicht ordnungsgemäß getesteten Impfstoff ist unethisch.“

Putin: „Ich weiß, dass sie wirksam ist“

Putin hingegen lobte die Impfung, die am Dienstagmorgen in Russland registriert wurde: „Ich weiß, dass sie wirksam ist, dass sie eine dauerhafte Immunität gibt“. Die Impfung, die vom Moskauer Gamaleja-Institut für Epidemiologie und Mikrobiologie entwickelt worden war, habe „alle erforderlichen Prüfungen“ bestanden und ermögliche eine dauerhafte Immunität, sagte Putin. Eine seiner Töchter sei bereits geimpft worden. Sie habe kurz eine leicht erhöhte Temperatur entwickelt, „das war alles“.

Finanziert wurden die Arbeiten am Impfstoff vom russischen Staatsfonds. Der Impfstoff solle den Namen „Sputnik V“ tragen, sagte der Chef des Staatsfonds Kirill Dmitrijew, und sprach von einem historischen „Sputnik-Moment“ – eine Referenz an den ersten Satelliten im Weltraum, den die damalige Sowjetunion 1957 vor den USA gestartet hatte.

Es handelt sich um einen Vektorimpfstoff der auf modifizierten Erkältungsviren basiert. Dabei transportieren harmlose Viren Teile des Erbguts von Erregern in den Körper. Dieser bildet im Idealfall dann Antikörper und setzt andere Abwehrmechanismen in Gang. Nach Angaben des Gesundheitsministeriums sorgt die zweimalige Impfung mit dem Stoff für eine „lange Immunität“. Diese könnte demnach bis zu zwei Jahre anhalten.

Russischer Impfstoff
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Laut dem Staatsfondschef soll es bereits Vorbestellungen von 20 Ländern in einem Umfang von „mehr als einer Milliarde Dosen“ geben

Erste Anfragen aus dem Ausland

Für den Impfstoff gibt es im Ausland bereits erste Interessenten. Insgesamt seien „schon 20 Länder auf uns zugekommen, die unseren Impfstoff kaufen und mit uns produzieren werden. (…) Zwei europäische Nationen sind schon auf uns zugekommen. Wir werden demnächst fünf weltweite Produktionspartner nennen“, so Dmitrijew. Dem Staatsfondschef zufolge gibt es bereits Vorbestellungen von 20 Ländern in einem Umfang von „mehr als einer Milliarde Dosen“.

Positiv äußerte sich etwa die Regierung der Philippinen: Man habe „großes Vertrauen“ in den Impfstoff und nehme das Angebot von Russland an, diesen an den Inselstaat zu liefern, sagte Präsident Rodrigo Duterte. Die Philippinen würden sich zudem mit Freiwilligen an klinischen Studien beteiligen. „Ich kann der Erste sein, an dem sie experimentieren können“, bot Duterte an.

Auch Israel bekundete grundsätzlich Interesse an Impfstoff. Der israelische Gesundheitsminister Juli Edelstein sagte, es gebe bereits Beratungen über den neuen Impfstoff. „Wenn wir zu der Überzeugung gelangen, dass es sich um ein ernsthaftes Produkt handelt, werden wir auch versuchen, Verhandlungen aufzunehmen“, sagte Edelstein. Der brasilianische Bundesstaat Parana kündigte am Mittwoch an, ein Abkommen mit Russland zu schließen, um den Impfstoff selbst zu produzieren.

Schwelle von 20 Millionen Infektionen überschritten

Weltweit wird in mehr als 170 Projekten nach Coronavirus-Impfstoffen gesucht, mehrere Forscherteams haben vielversprechende Zwischenergebnisse veröffentlicht. Auch befinden sich mehrere von westlichen Firmen und von China entwickelte Impfstoffe bereits in der dritten und letzten Testphase. Laut einer Liste der WHO vom Montag werden derzeit sechs Impfstoff-Kandidaten in einer Phase-III-Studie getestet – russische Präparate zählen nicht dazu. Allerdings rechnen Experten generell mit einem marktfähigen Impfstoff erst im kommenden Jahr.

Nur ein gut wirksamer Impfstoff kann Experten zufolge letztlich eine rasche deutliche Wende in der Coronavirus-Pandemie bringen, ohne dass strenge Lockdown-Regeln nötig sind. Die Zahl weltweit bekannter Coronavirus-Infektionen stieg zuletzt innerhalb von weniger als drei Wochen von 15 Millionen auf über 20 Millionen. Das ging am Montag aus Daten der Universität Johns Hopkins in Baltimore hervor. Besonders betroffen sind neben den USA, Brasilien und Indien derzeit auch Länder wie Russland, Südafrika und Mexiko.