Demonstration in Minsk
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„Marsch der Freiheit“

Neuer Massenprotest gegen Lukaschenko

Erstmals hat der weißrussische Präsident Alexander Lukaschenko mit einer eigenen Kundgebung ein Zeichen der Stärke setzen wollen. Doch zum „Marsch der Freiheit“ der Opposition erschienen Zehntausende Menschen, die erneut den Rücktritt des Autokraten forderten. Es war eine der größten Kundgebungen der vergangenen Tage. Unterdessen sagte Russland Lukaschenko Militärhilfe zu.

In vielen Medien war vom größten Protest in der Geschichte Weißrusslands die Rede, die Zahl der Demonstrantinnen und Demonstranten wurde mit mindestens 100.000 angegeben. Das unabhängige Internetportal Tut.by schrieb gar von 200.000 Teilnehmerinnen und Teilnehmern. Bei ihrem Marsch über den Unabhängigkeitsboulevard trugen die Oppositionsanhänger weiße Kleidung, Blumen und Ballons. Lautstark forderten sie Lukaschenkos Abgang.

Die Demonstrantinnen und Demonstranten trugen eine 100 Meter lange rot-weiße Fahne durch die Stadt. Die von Lukaschenko abgeschaffte Flagge der Nachwendezeit gilt als Symbol der Opposition im Land. Zu den Unterstützern des Marsches gehörten auch bekannte Journalistinnen und Journalisten des staatlichen Rundfunks, Forscherinnen und Forscher, Geschäftsleute sowie Ex- Kulturminister Pawel Latuschko.

Demonstration in Minsk
Reuters/Vasily Fedosenko

Regierungsgegnerinnen und -gegner wollen auch in den nächsten Tagen mit Aktionen für die Freilassung von politischen Gefangenen und für einen sofortigen Rücktritt Lukaschenkos eintreten. „Wir werden keine Ruhe geben, bis die gegenwärtigen Machthaber zurückgetreten sind und Belarus ein freies Land wird“, sagte die Oppositionelle Maria Kolesnikowa am Sonntag in Minsk vor Demonstrierenden. „26 Jahre Alptraum müssen enden.“

Lukaschenko trat bei eigener Demo auf

Eigentlich wollte Lukaschenko das Bild am Sonntag zu seinen Gunsten inszenieren: Tausende Menschen versammelten sich Sonntagmittag auf dem Unabhängigkeitsplatz in der Hauptstadt Minsk. Sie riefen „Für Lukaschenko“. Viele trugen T-Shirts, auf denen „Wir sind uns einig“ stand. Unabhängige Beobachter gingen von 10.000 Teilnehmerinnen und Teilnehmern aus. Die Staatsagentur Belta sprach von 50.000.

Auf Freiwilligkeit konnte dabei offenbar nicht gesetzt werden: Medien berichteten, dass Staatsbedienstete in vielen Teilen des Landes gedrängt wurden, in Minsk an den Demos für den Staatschef teilzunehmen. Auf Videos war zu sehen, wie Buskolonnen in Richtung der Hauptstadt fuhren. Die Kundgebung hatte jene Organisation initiiert, die den Präsidenten seit 2007 zum Beispiel bei Wahlkämpfen unterstützt. Es sollten alle Kräfte gebündelt werden, die den Staatskurs unterstützen, hieß es in dem Aufruf.

„Keine Wahlfälschung“

Auch trat Lukaschenko bei der Demo auf und bedankte sich bei seinen Anhängerinnen und Anhängern. „Ich habe euch nicht hierher gerufen, um mich zu verteidigen. Vielmehr könnt ihr zum ersten Mal seit einem Vierteljahrhundert euer Land und dessen Unabhängigkeit verteidigen“, sagte er.

Der weißrussische Präsident Alexander Lukaschenko
Reuters
Lukaschenko während seiner Rede vor Anhängerinnen und Anhängern in Minsk

„Ich stehe hier wie vor Gott“

Die Vorwürfe der Fälschung bei der Präsidentenwahl vor einer Woche wies er zurück. Bei Ergebnissen von mehr als 80 Prozent könne es keinen Wahlbetrug geben, sagte er der Staatsagentur Belta zufolge. „Ich stehe hier wie vor Gott.“ Zugleich lehnte er eine Neuwahl ab. „Litauen, Polen und die Ukraine befehlen uns, Neuwahlen abzuhalten“, sagte Lukaschenko. Zum ersten Mal seit 25 Jahren müssten das Land, die Familien, Kinder und Frauen beschützt werden. „Ich bin das erste Mal in meinem Leben auf Knien vor euch“, sagte er in der Rede.

Demonstration in Minsk
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Auch am Sonntag vermochte die Opposition äußerst stark zu mobilisieren

NATO: Keine Truppenansammlung an Grenze

Lukaschenko warf der NATO einen Truppenaufmarsch an seiner Westgrenze vor. Panzer und Flugzeuge stünden nur 15 Minuten von der Grenze entfernt, so Lukaschenko. Die NATO wies diese Behauptung aber zurück: „Es gibt keine NATO-Ansammlung in der Region“, sagte Sprecherin Oana Lungescu am Sonntag. „Die multinationale Präsenz der NATO im östlichen Teil der Allianz ist keine Bedrohung für irgendein Land.“ Vielmehr sei sie defensiv, verhältnismäßig, friedenssichernd und solle Konflikte verhindern.

Das Verteidigungsministerium in Minsk kündigte unterdessen am Sonntag dreitägige Militärübungen in der Nähe der Grenze zu Litauen und Polen an. Die Manöver etwa mit Panzern auf Übungsplätzen und im Gelände seien schon länger geplant gewesen, hieß es in einer Mitteilung. Litauens Verteidigungsminister Raimundas Karoblis sagte, sein Land sei keine militärische Bedrohung für Weißrussland. Er wies auch Vorwürfe aus Minsk zurück, das Ausland mische sich ein.

Russland sichert Hilfe im Ernstfall zu

Zuletzt ordnete Lukaschenko die Verlegung von Fallschirmjägern nach Grodno im Westen des Landes an. Lukaschenko wies zudem das Verteidigungs- und das Innenministerium sowie den Geheimdienst KGB an, keine „ungesetzlichen Aktionen“ im Land zuzulassen. Konkret planten seine Gegner eine Menschenkette vom EU-Land Litauen durch Weißrussland in die Ukraine.

Lukaschenko hatte auch den russischen Präsidenten Wladimir Putin in einem Telefonat um Hilfe gebeten. Staatliche Medien korrigierten am Samstagabend Aussagen Lukaschenkos, wonach Russland militärisch einschreiten könnte.

Am Sonntag hieß es aus Moskau hingegen, dass Putin Lukaschenko militärische Hilfe zugesagt habe. Auf Weißrussland werde Druck von außen ausgeübt, erklärte das Moskauer Präsidialamt nach einem Telefonat Putins mit Lukaschenko. Russland sei daher bereit, im Rahmen des mit dem Nachbarland bestehenden Militärabkommens zu helfen. Woher der Druck von außen komme, habe Putin offengelassen.

Demonstration in Minsk
APA/AFP/Sergei Gapon
Eine Demoszene in Minsk

Russland und Weißrussland sind traditionell verbündet. Doch vor der Wahl waren die Beziehungen angespannt, nachdem Russland Subventionen für Lukaschenkos Regierung gekürzt hatte. Putin drängt seit Längerem auf eine engere Verbindung, was Lukaschenko bisher abgelehnt hat. Er wirft Russland vor, sein Land mit 9,5 Millionen Einwohnerinnen und Einwohnern schlucken zu wollen. Russland betrachtet Weißrussland als Puffer gegenüber der NATO und dem Westen.

„Russland rettet keine stürzenden Regime“

Der weißrussische Analyst Artjom Schraibman hält eine russische Militärintervention zur Unterstützung Lukaschenkos für äußerst unwahrscheinlich. „Russland rettet keine stürzenden Regime mit Streitkräften“, teilte er mit. Möglich sei, dass ein Präsident herausgeholt werde aus dem Land. Schraibman meinte auch, Russland sei schon jetzt wegen des Ukraine-Konflikts mit Sanktionen belegt und habe kein Interesse an einer weiteren Eskalation auf internationaler Bühne.

Zehntausende bei Demos in Weißrussland

In Wießrussland kommt es heute erneut zu Massenprotesten. Zehntausende Anhänger der Opposition nehmen am „Marsch der Freiheit“ teil und fordern den Rücktritt des Präsidenten.

Ähnlich sieht das die weißrussische Oppositionelle Maria Kalesnikawa. „Ich glaube nicht, dass Putin eingreift, es wäre auch ein dummer Schritt“, sagte sie der deutschen Zeitung „Bild am Sonntag“. „Die Unterstützung in Belarus ist groß, wir wollen in einem freien und europäischen Land leben.“ EU-Sanktionen gegen die Verantwortlichen für die Misshandlung von Demonstranten lehnte die Oppositionelle unterdessen ab. Die Betreffenden müssten „nach belarussischem Recht“ bestraft werden, sagte die Oppositionelle der Zeitung.

Dialog mit Opposition abgelehnt

Seit der Präsidentenwahl vor einer Woche gibt es landesweit Proteste empörter Bürgerinnen und Bürger, die nicht an einen Wahlsieg Lukaschenkos glauben. Viele seiner Gegnerinnen und Gegner, die im ganzen Land demonstrieren, fragen sich seit Tagen, wo diese 80 Prozent sind.

Den Sieg bei der Wahl beansprucht die 37-jährige, aus Sicherheitsgründen nach Litauen ausgereiste Swetlana Tichanowskaja für sich. Ihre Unterstützer fordern einen Rücktritt Lukaschenkos, die Freilassung aller Gefangenen und eine Neuwahl.

Swetlana Tichanowskaja
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Tichanowskaja reiste nach der Wahl aus Sicherheitsgründen nach Litauen aus

Der 65-jährige Lukaschenko hatte die Demonstrantinnen und Demonstranten als vom Ausland manipuliert, bezahlt sowie als Menschen mit krimineller Vergangenheit und als Arbeitslose bezeichnet. Danach traten auch Arbeitskollektive in vielen Staatsbetrieben in den Streik. Lukaschenko spricht immer wieder auch von einer Gefahr aus dem Ausland, ohne Details zu nennen.

Trauerfeiern für Tote

Schon am Samstag waren in Minsk erneut Zehntausende Menschen gegen Lukaschenko auf die Straße gegangen. Einige legten Blumen an der Stelle nieder, wo vergangene Woche ein Demonstrant getötet worden war. Die Menge skandierte „Lukaschenko ist ein Mörder“ und „Verschwinde“. Unterdessen nahmen am Sonntag in der Stadt Gomel Hunderte Menschen Abschied von einem jungen Mann, der bei den Protesten gegen Lukaschenko festgenommen wurde und später im Krankenhaus starb.

Deutscher Vizekanzler: „Schlimmer Diktator“

Der deutsche Vizekanzler und SPD-Kanzlerkandidat Olaf Scholz forderte den Rückzug Lukaschenkos. „Das ist ein schlimmer Diktator“, sagte Scholz am Sonntagabend der „Bild“ (Onlineausgabe). Er sei ebenso wie die Demonstrierenden in Minsk für einen Rückzug Lukaschenkos. Der französische Staatspräsident Emmanuel Macron forderte die Europäische Union zur Unterstützung der friedlichen Demonstrationen in Weißrussland auf.

Die EU hatte am Freitag wegen der Polizeigewalt in Weißrussland neue Sanktionen gegen Unterstützer Lukaschenkos in die Wege geleitet, es soll auch Strafmaßnahmen gegen Personen geben, die für eine Fälschung der Präsidentenwahl verantwortlich gemacht werden.