Die Autorin Melisa Erkurt
ORF
„Generation haram“

Schule und Migration radikal neu denken

Schule und Migration – ein mit Ideologie überfrachtetes, vieldiskutiertes Thema: Gängige Argumentationslinien führen nirgends hin. Melisa Erkurt, Journalistin und Gymnasiallehrerin für Deutsch, geboren 1991 in Sarajevo, aufgewachsen in Wien, fordert ein radikales Umdenken.

2016 hatte Erkurt unter dem Titel „Generation haram“ einen vielbeachteten Artikel für das Magazin „biber“ geschrieben. Darin ging es in erster Linie um muslimische Burschen, die Mädchen in den Schulen unter Druck setzen, möglichst fromm zu sein – obwohl sie selbst es allzuoft nicht sind und obwohl sie über den Islam in Wahrheit kaum etwas wissen. Das Thema wird im Buch zwar kurz angesprochen, aber es geht eigentlich um etwas anderes, um das, was im Untertitel steht: „Warum Schule lernen muss, allen eine Stimme zu geben“.

Erfahrungsberichte kennt man in erster Linie aus der Sicht autochthoner Pädagoginnen und Pädagogen, also von Lehrerinnen und Lehrern, die selbst keinen Migrationshintergrund haben. Da gibt es zwei Lesarten: die schlicht und einfach xenophobe, die nicht weiter nach Gründen fragt, warum etwas schlecht funktioniert. Und die mitleidige, in der Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund in ihrer Opferrolle festgeschrieben werden, als ob deren einzige Chance sei, auf externe Hilfe zu warten, die sie aus dem restriktiv-rückschrittlichen Elternhaus befreit. Erkurt schlägt einen anderen Weg ein.

Die verlorene Generation

Erkurt: „Diese Generation hat ein Problem, sie ist nicht das Problem – (…) eine ganze Generation, die verloren geht.“

Die schöne Welt von Paul und Marie

Zunächst: Nach dem zweijährigen Schulprojekt „Newcomer“ an Wiener Brennpunktschulen, nach einem Studium der Germanistik, nach ihrer Tätigkeit für das migrantische Magazin „biber“, nach einem Jahr des Unterrichtens an einem Wiener Gymnasium und als Kolumnistin von „Falter“ und „taz“ gilt Erkurt als Expertin. Aber ihr Buch liest sich nicht wie eine trockene Bestandsaufnahme ex cathedra. Das Buch ist ein überaus packender Pageturner aus der Feder einer Autorin, die sich beteiligt fühlt, die involviert ist, die ihre eigenen Erfahrungen teilt.

Die ORF-Journalistin – sie ist Redakteurin des „Report“ – schreibt in ihrem Buch, dass das Bildungssystem sich noch immer an urösterreichischen Kindern der bildungsbürgerlichen Mittelschicht orientiert. Man könnte sie Paul und Marie nennen. Paul und Marie machen gemeinsam mit der Mama Hausaufgaben und werden vor Prüfungen von ihr unterstützt. Paul und Marie haben ein eigenes Zimmer und einen eigenen Computer, und sie werden in ihrer Entwicklung weit über das schulische Angebot hinaus gefördert. Paul lernt Klavier, Marie macht einen Reitkurs.

Der Wunschtraum von einfachen Lösungen

Das Schulsystem funktioniert, solange nur Pauls und Maries in den Klassen sitzen. Erkurt sagt, man versuche derzeit 1:1 an dieser Annahme festzuhalten und aus Mohameds und Hülyas kleine Pauls und Maries zu machen. Etwa, indem man ihre Eltern durch Sanktionen zwingt, in die Schule zu gehen, sich zu interessieren und die Kinder zu unterstützen. Doch wer denkt, dass man nur hier und da eine Schraube drehen muss, und schon ändert sich von einem Tag auf den anderen Mohameds und Hülyas Umfeld in das von bürgerlichen Mittelstandskindern, der hat keine Ahnung, wie Kinder mit Migrationshintergrund in bildungsfernen Schichten aufwachsen.

„Schule an Kinder anpassen“

Erkurt: "Wir müssen die Schule anpassen an die Kinder. Unsere Schule ist noch immer so wie vor 100 Jahren – aber die Kinder sind ganz andere.

Erkurt hat Ahnung. Ihre Mutter floh mit ihr 1992 vor dem Jugoslawien-Krieg, als sie noch ein Baby war. Der Vater kam später nach. Sie wuchs als „muslimisches Flüchtlingsmädchen mit Arbeitereltern“ auf. Es war wenig Geld da, noch weniger Deutschkenntnisse, und am allerwenigsten Unterstützung für die schulische Laufbahn der Tochter.

Das faltenfreie Hausübungsheft

Erkurt sagt sinngemäß: Eltern, die selbst Diskriminierungserfahrungen gemacht haben, die kaum Deutsch sprechen, die sich selbst schwach fühlen gegenüber dem System – die werden sich nicht mehr ändern, die werden nicht plötzlich mehr Zeit und Geld in die Ausbildung ihrer Kinder investieren. Sie schwächen sogar noch die Ambitionen und das Selbstbewusstsein des Nachwuchses, indem sie sagen: „Hat eh keinen Sinn, solche wie uns lassen sie eh nicht hochkommen.“

Es scheitert außerdem auch am Praktischen, wie gerade die Coronavirus-Krise gezeigt hat. Wenn es für eine siebenköpfige Familie nur einen einzigen Computer gibt und für fünf Geschwister nur einen einzigen Schreibtisch – wie soll man dann am digitalen Unterricht teilnehmen? Wie ein faltenfreies Hausübungsheft mit bunten Zierleisten abgeben? Und wer damit beschäftigt ist, sich um die jüngeren Geschwister zu kümmern und für die Eltern jede Art von Bürokratie zu erledigen, hat eben keine Zeit fürs Lernen.

Lehrer besser vorbereiten

Erkurt erzählt, dass sie sich als Lehrerin nicht gut vorbereitet gefühlt hat auf Klassen mit hohem Migrantenanteil

Selbstvertrauen als Schlüssel

Das gesamte Umfeld innerhalb einer einzelnen Bildungsbiografie zu ändern – das schlägt Erkurt nicht vor. Wie sollte das auch gehen? Eine ganze Generation an Eltern zwangspsychotherapieren, in Zwangswertekurse schicken, sie in Zwangsdeutschkurse setzen, sie mit Geld ausstatten und zum Bobo-Leben zwingen? Etwas viel Zwang – und etwas unrealistisch. Aber was dann?

Erkurt sagt: Man muss bei den Schülerinnen und Schülern selbst ansetzen. Deren Potenzial ist groß, gerade weil sie so selbstständig sind, gerade weil sie mit zwei Sprachen aufwachsen. Ihr Selbstvertrauen muss gestärkt werden, das wäre der Schlüssel. Dafür sind wiederum Lehrerinnen und Lehrer am besten geeignet, die selbst Migrationshintergrund haben. Erstens, weil sie wissen, was stärkt und was schwächt, wenn man in einem bildungsfernen Umfeld aufwächst. Und zweitens, weil sie sich als Idole eignen, nach dem Motto: Wenn die es geschafft haben, dann kann ich es auch schaffen.

Selbst ernannte Kämpfer für die Aufklärung

Autochthone Lehrkräfte sind oft keine Hilfe. Die einen haben kein Verständnis und treten unfreundlich auf, weil sie angesichts der Probleme schlicht genervt sind. Am liebsten wäre ihnen, es würde neben Pauls und Maries keine Mohameds oder Hülyas geben. Und dann gibt es die, die sich in der Rolle der engagierten Lehrerinnen und Lehrer gefallen, die die armen Kinder aus ihrem islamofaschistischen, machoiden Verhältnissen herausreißen wollen – und sich selbst dabei am liebsten ständig in ihren Vorurteilen bestätigen.

Aber es bringt nichts, angestachelt durch das leicht sensationalistische Interesse am Kulturdrama, sich selbst als widerständige Speerspitze der Aufklärung abfeiernd, ein Mädchen zu drängen, dass es erzählt, wie es vom übergriffigen Vater dazu gezwungen wird, Kopftuch zu tragen. Das bringt viele junge Menschen ganz einfach nur zum Schweigen und in Loyalitätskonflikte, die sie in ihrem Selbstvertrauen noch weiter schwächen. Es beschämt sie. Wird jedoch das Selbstvertrauen der Kinder gestärkt, im Sinn von: Du kannst das schaffen! Aus dir kann etwas werden! Dann geht es mit den Kids bergauf.

Das Buch „Generation Haram“ (Zsolnay)
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Melisa Erkurt: Generation Haram. Zsolnay, 192 Seiten, 20,60 Euro.

Auch Deutsch-Rap statt nur Goethe

Man muss die Jungen ganz woanders abholen, als sie momentan abgeholt werden. Da kommen Kinder ins Bildungssystem, die daheim noch nie ein Buch in Händen gehalten haben, denen daheim noch niemals jemand etwas vorgelesen hat, mit denen daheim noch niemals jemand gebastelt hat, die daheim kaum je einen Stift in der Hand gehalten haben. Das in nur einem Kindergartenjahr aufholen zu wollen und dann zu glauben, ein normaler Volksschullehrplan, der sich an Paul und Marie orientiert, kann auch nur irgendwie sinnvoll verfolgt werden, ist naiv.

Wenn man sich dessen bewusst ist, geht viel, berichtet Erkurt aus der eigenen Unterrichtserfahrung. Es ist möglich, auch Kinder aus bildungsfernen Schichten für das Lesen zu begeistern – wenn man sich die Zeit nimmt, sich mit den einzelnen individuellen Interessen zu beschäftigen, und so die richtigen Bücher empfiehlt. Und wieso nicht auch über deutsche Rap-Texte diskutieren statt nur über Goethe-Gedichte? Warum nicht über Rollenklischees in migrantischen und nicht migrantischen Umfeldern diskutieren und über antisemitische Vorurteile im Lichte des Nahost-Konflikts? So holt man junge Menschen mit ihrem Erfahrungshorizont herein in den Unterricht, anstatt sie zu exkludieren.

Ganztagsschule mit guter Durchmischung

Und neben engagiertem Lehrpersonal mit Migrationshintergrund bräuchte es auch ein engmaschiges Unterstützungssystem aus Schulsozialarbeit und Schulpsychologie, damit Lehrerinnen und Lehrer sich aufs Unterrichten und Fördern konzentrieren können.

Zu guter Letzt empfiehlt Erkurt ein Ganztagsschulsystem, damit Kinder aus bildungsfernen Haushalten möglichst gut unterstützt werden können. Nur müsse garantiert sein, so Erkurt sinngemäß, dass dann nicht „Problemschulen“ in „Problembezirken“ geschaffen werden im Gegensatz zu „Boboschulen“ in „guten Bezirken“. Die Durchmischung müsse passen – schon alleine deshalb, weil wachsame „Boboeltern“ ein Garant dafür seien, dass eine Schule nach modernen Erkenntnissen geführt wird.

Argumentative Dichte und Furor

Erkurts Buch jedenfalls ist mit einer argumentativen Dichte und gleichzeitig mit einem Furor geschrieben, die ihresgleichen suchen. Die 180 Seiten sind rasch gelesen, man will das Buch kaum weglegen. Es sollte Pflichtlektüre sein für alle, die sich an Bildungspolitik bzw. den Diskussionen darüber beteiligen – und am besten gleich auch für jedwede Pädagogin und jedweden Pädagogen. Erkurt und dem Zsolnay Verlag ist mit „Generation Haram“ ein programmierter Bestseller gelungen.