Hochgezogene Brücken in Chicago bei Nacht
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Mehr als ein Symbol

Chicago zieht die Brücken rauf

Brücken bauen, Brücken einreißen, Brücken hinter sich lassen: Es gibt zahlreiche Symbole, die eine Brücke mit sich bringen kann. In der US-Stadt Chicago ließ Bürgermeisterin Lori Lightfoot die Brücken zwischen Nord und Süd, Ost und West zuletzt mehrmals hinaufziehen, da es zu Plünderungen gekommen war. Das machte die Brücke zur Barriere gegen Kriminalität, aber auch gegen Armut.

Will man in Chicago in die Innenstadt, so muss man eine Brücke queren. Doch gerade im Zentrum kam es zuletzt nachts zu Plünderungen von Geschäften. Die Bürgermeisterin setzte daher eine drastische Maßnahme: Sie ließ in der Nacht die Brücken hinaufziehen. So konnten die vorwiegend wohlhabenden Bewohnerinnen und Bewohner der Innenstadt zwar nicht raus, Plünderer und Plünderinnen aber auch nicht rein.

Eigentlich werden die Brücken seit Jahrzehnten nur mehr untertags hin- und wieder hinaufgezogen, damit größere Schiffe den Chicago-River auf dem Weg zum Michigan-See passieren können – vom Prinzip her mit einem Bahnübergang vergleichbar. Doch Lightfoot sei es, wie sie sagte, in jüngster Zeit um die Sicherheit von Unternehmen sowie von Anrainerinnen und Anrainern gegangen. Das habe sie zu ihrem Schritt bewogen.

„Das sagt, dass man einen Teil vor anderem schützt“

Die Brücken in Chicago sind eine Erinnerung an frühere Epochen der drittgrößten Stadt der USA. Vor Jahrzehnten, als auf dem Fluss noch reger Handelsverkehr herrschte, beschäftigte die Stadt Tausende Personen, die Beiboote fuhren und die Brücken hinauf- und herunterließen. Doch spätestens in den 1980ern ging der Flussverkehr zurück, und so nahm auch der Bedarf an diesen Berufen ab. Heute sind es vorwiegend Touristenboote, die den Chicago-River passieren.

Chicagos Bürgermeisterin Mayor Lori Lightfoot
Reuters/Kamil Krzaczynski
Lightfoots Schritte sind umstritten

Langjährige Bewohnerinnen und Bewohner sagten der Investigativplattform Pro Publica Illinois, sie könnten sich an keine Zeit erinnern, zu der die Brücken im Namen der Verbrechensbekämpfung oder der öffentlichen Sicherheit hinaufgezogen worden seien. „Im Grunde sagt man damit, dass man einen Teil der Stadt vor einem anderen Teil schützt“, so die Kritik der Chicagoer Journalistin Delmarie Cobb.

Vielversprechender Wahlkampf

Die Wahl der Demokratin Lightfoot letztes Jahr war ein Zeichen gegen Korruption und für eine neue Vision in der Metropolregion. Die 58-Jährige hat gute Kontakte zur alteingesessenen Polizei, da sie zuvor im Polizeipräsidium saß. Im Wahlkampf argumentierte sie aber auch, dass sie als Afroamerikanerin aus einer Arbeiterfamilie einen progressiven Ansatz zur Verbrechensbekämpfung mitbringen würde. Sie betonte stets die Notwendigkeit, die armen und krisengebeutelten Stadtviertel der South Side wiederbeleben zu wollen.

Doch Chicagos Herausforderungen verschärften sich im letzten halben Jahr enorm: einerseits durch die Pandemie und die damit einhergehende Wirtschaftskrise, andererseits durch einen Anstieg der Waffengewalt, der rassistischen Handlungen der Polizei und durch die Proteste dagegen. Und im Krisenmodus, so scheint es, gehe es in erster Linie um die Maßnahmenbekämpfung, jedoch weniger um die Ursachen. Wie der Kolumnist Mick Dumke auf Pro Publica schrieb, konzentriere sich die Gewaltbekämpfung zudem auf die wohlhabenden Gebiete, also jene außerhalb der schwarzen und hispanischen Nachbarschaften. Er warnte daher, die Menschen könnten noch mehr in Richtung Gewalt und Armut abrutschen.

Schießerei auf South Side, Plünderungen im Zentrum

Die Ereignisse überschlugen sich vor zwei Wochen, als Polizeibeamte im Stadtteil Englewood auf der berüchtigten South Side das Feuer auf einen 20 Jahre alten Mann eröffnet hatten, von dem sie sagten, er habe zuerst auf sie geschossen. Viele Anrainerinnen und Anrainer glaubten diesem Polizeibericht nicht, da die Beamten keine Körperkameras trugen, die den Vorfall hätten aufzeichnen können.

Ein Passant fotografiert das eingeschlagene Schaufenster einees geplünderten Geschäfts in Chicago
Reuters/Kamil Krzaczynski
Nach einer Schießerei in einem anderen Teil der Stadt, kam es zu Plünderungen im Luxusviertel

Am Abend des 9. August und bis in den nächsten Morgen hinein versammelten sich anschließend Hunderte von Menschen in der Innenstadt, um zu demonstrieren. Zwar schickten die Behörden 400 Beamtinnen und Beamte ins Zentrum, sobald aber von „Karawanen“ die Rede war, die dorthin fuhren, um zu plündern, wurde die Lage immer chaotischer. Geschäfte entlang der Einkaufsmeile Michigan Avenue und in den umliegenden Gebieten wurden geplündert. Nach Angaben der Polizei wurden 13 Beamte verletzt und über 100 Personen verhaftet.

„Wir kriegen euch“

In der Früh reagierte Lightfoot dann, sie sei schockiert und wütend gewesen, zumal sich einige der Geschäfte von den Unruhen und Schäden in diesem Frühjahr noch nicht erholt hatten. Diese gingen auf die Proteste wegen der Ermordung des Afroamerikaners George Floyd durch die Polizei von Minneapolis zurück. Die Bürgermeisterin stemmte sich vehement dagegen, dass die jüngsten Unruhen als Protest gegen die Schießerei in Englewood gesehen werden sollten. „Diese Personen waren an etwas beteiligt, das man nur als dreiste und umfassende kriminelle Plünderung und Zerstörung bezeichnen kann“, sagte sie. Den Tätern schwor sie: „Wir kriegen euch.“

Die Bürgermeisterin sagte, die Stadt habe schon früher schwerwiegende Herausforderungen überwunden, indem sie „Schulter an Schulter, Nachbar an Nachbar“ gestanden sei. Dabei sei es jetzt aber an der Zeit, „gegen Kriminelle vorzugehen“, und jeder, der das nicht tue, sei der Stadt gegenüber „illoyal“.

Reihe an Maßnahmen

Später am selben Tag kündigte Lightfoot die Maßnahmen an, mit denen der Zugang zur Innenstadt für die nächsten Abende eingeschränkt werden sollte, darunter die Einstellung des Zugsverkehrs, des öffentlichen Nahverkehrs, die Schließung von Auffahrten auf Schnellstraßen und die Beschränkung des Zugangs auf gewisse Plätze in der Stadt. Und wie sie es auch schon nach den Unruhen im Frühjahr getan hatte, ordnete die Bürgermeisterin an, die Brücken zur Innenstadt hinaufzuziehen.

Blick über Chicago und den Chicago River
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Die Brücken in Chicago sind normalerweise nur selten geöffnet

Für Lightfoots Verbündete war das eine notwendige Reaktion, um das Wirtschaftszentrum von Chicago zu schützen. Der demokratische Stadtrat Chris Taliaferro, der den 29. Bezirk auf der West Side vertritt, sagte, dass dieser Schritt für ihn als Militärveteran und ehemaliger Polizeibeamter sinnvoll sei. „Der beste Weg, ein Gebiet zu schützen, besteht darin, den Zugang zu begrenzen“, sagte er. Taliaferro räumte jedoch ein, dass die Sicherheitspläne der Stadt nicht ausreichen würden. „Es muss die Frage gestellt werden, wie man Plünderungen verhindern kann“, so der Politiker weiter. „Lassen wir unsere Differenzen beiseite und beginnen wir, in diesen Vierteln zu investieren, damit wir aufhören können, diese Pressekonferenzen abzuhalten.“

„Lightfoot hätte nach Englewood fahren sollen“

Kritik bekommt Lightfoot einerseits von jenen, die finden, sie habe auf die Plünderungen nicht hart genug reagiert, andererseits auch von jenen, die die Brückenmaßnahme als ein zu heftiges Symbol sehen. „Warum sieht sich die Stadt in Notfällen immer auf die Strafverfolgung beschränkt?“, fragte etwa der Kolumnist Dumke. „Menschen, die in der Innenstadt leben und arbeiten, verdienen es, sich sicher zu fühlen – ebenso wie Menschen, die in Nachbarschaften leben, die täglich von Gewaltverbrechen heimgesucht werden.“ Er vermisse die Gleichwertigkeit, die Geschlossenheit Chicagos, schrieb er und forderte: „Anstatt von den Chicagoern Loyalität zu fordern, hätte Lightfoot nach Englewood fahren und direkt mit bedürftigen Menschen sprechen sollen, vor allem mit jungen arbeitslosen Männern.“

Chicago ist wegen seines Anstiegs der Kriminalität wieder in den nationalen Fokus geraten. Die Polizeistatistik weist einen Anstieg von Schusswaffengewalt und Morden aus. US-Präsident Donald Trump hatte deswegen mehrfach die Stadtregierung kritisiert und im Juli zusätzliche Bundespolizistinnen und -polizisten nach Chicago beordert. Justizminister William Barr erklärte, sie sollten dort „klassische Verbrechensbekämpfung“ unterstützen.