Christoph Schlingensief vor der Staatsoper bei seiner Kunstaktion: BITTE LIEBT ÖSTERREICH im Rahmen der Wiener Festwochen 2000
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Christoph Schlingensief

Zehn Jahre ohne den Paradeprovokateur

Am Freitag jährt sich der Todestag des vielseitigen Künstlers Christoph Schlingensief zum zehnten Mal. Von Film über Theater und Theaterperformance bis Oper changierte er zwischen den Kunstformen und verstand es, gekonnt zu provozieren. Mit seiner Performance „Ausländer raus!“ im Rahmen der Wiener Festwochen 2000 trat er einen Skandal los, der heute noch vielen in Erinnerung ist. Er verstarb 49-jährig an Krebs.

1997 wurde er auf der documenta X verhaftet, weil er mit einem Schild herumging, auf dem stand „Tötet Helmut Kohl“, 1998 gründete er die Partei „Chance 2000“ und inszenierte seinen Wahlkampf als „Wahlkampfzirkus ’98“ in Zirkusuniform, 2004 inszenierte er in Bayreuth den „Parsifal“: Schlingensief war ein ungemein vielseitiger Künstler, der sich selbst immer als Filmemacher begriff.

Der Film war seine erste Liebe. Sein erster erhaltener Film ist eine Kinderaufnahme, sieben Minuten Amateuraufnahmen eines noch nicht einmal achtjährigen Kindes aus dem katholisch-kleinbürgerlichen Milieu, das noch der gefeierte Künstler als prägend und wichtig beschrieb. In „Mein erster Film“ sieht man Kinder in verwackelten Super-8-Bildern, das Voiceover – wohl Schlingensiefs Kinderstimme – kündigt ein Begräbnis an, Kinder tragen Fahnen in einer Art Parade. Über diesen Film sagte Schlingensief, er habe „68, als die anderen demonstriert haben, den ersten Widerstandsfilm gedreht“.

Der ewige Regisseur

Reaktionäres Denken und Faschismus waren zwei Themen, an denen sich Schlingensief in seinem gesamten Werk abarbeitete, so etwa in seiner Deutschlandtrilogie („100 Jahre Adolf Hitler“, 1989, „Das deutsche Kettensägenmassaker“, 1990 und „Terror 2000“, 1992), mit der ihm der Durchbruch gelang. Selbst in seinen performativen und theatralen Arbeiten blieb das Medium Film für den künstlerischen Ansatz beherrschend.

Claus Philipp, ehemaliger Kulturjournalist beim „Standard“, arbeitete bei mehreren Projekten eng mit Schlingensief zusammen. Im Gespräch mit ORF.at sagte er, Schlingensief habe bei seinen Theaterarbeiten und Inszenierungen durchgehend gefilmt: „Der Akt des Drehens war für ihn schon eine Art Performance.“ Das Performative, das Hinterfragen und Brechen von Darstellungsweisen ist ein möglicher Schlüssel zum Verständnis von Schlingensiefs Werk.

Regisseur Christian Schlingensief
AP/Florian Eisele
Christoph Schlingensief beherrschte die kalkuliuerte Provokation der Öffentlichkeit wie kein Zweiter

Politik und Kommunikation

Das zeigt sich insbesonders an seinen Arbeiten, die das Setting von Film und Theater deutlich überschritten und in der politischen Sphäre spielten. 1998 forderte er im Zuge des Wahlkampfs seiner Partei „Chance 2000“ sechs Millionen Arbeitslose dazu auf, gleichzeitig im Wolfgangsee schwimmen zu gehen. Dadurch sollte der Wasserstand um zwei Meter gehoben werden und das Domizil, in dem der amtierende deutsche Bundeskanzler Helmut Kohl urlaubte, geflutet werden.

Natürlich traten nur wenige Schwimmer zur Aktion an und was übrig blieb, waren neckische Interviews mit Schlingensief, bei denen nie klar war, ob er ernst meinte, was er sagte und tat, oder sich auf eine theatrale Ebene zurückzog. Als er im Jahr 2000 bei den Wiener Festwochen eingeladen wurde, kam es zu einem Medienskandal. Sein Projekt „Ausländer raus!“ nahm Anleihen an der damals beliebten Fernsehshow „Big Brother“, in der das Publikum wöchentlich einen der Teilnehmer herauswählen konnte.

Schlingensief baute vor der Staatsoper einen Container auf, in dem mehrere Flüchtinge wohnen sollten, das Publikum konnte täglich einen der Containerinsassen herauswählen. Dabei hieß „herauswählen“ in diesem Fall des Landes verweisen. Hinzu kam, dass der Container mit fremdenfeindlichen Plakaten der FPÖ, FPÖ-Fahnen und einem Banner mit Wahlspruch der SS, „Unsere Ehre heißt Treue“, verziert war und Schlingensief hetzerische Passagen aus Reden Jörg Haiders ins Megaphon schrie.

Der Skandal, der spätestens hochkochte, als Demonstranten der Donnerstagsdemos, die damals wöchentlich gegen die Koalition der ÖVP und FPÖ abgehalten wurden, den Container besetzten, erreichte gewaltige Ausmaße. Erst bei der Besetzung wurde den meisten Zaungästen der Performance klar, dass die Flüchtlinge echt waren, nicht von Schauspielern verkörpert wurden, wie viele angenommen hatten.

Schlingensief als Vorreiter

In der Rückschau wirkt das alles durchgeplant und choreografiert, doch Philipp erzählte gegenüber ORF.at, dass die Eskalation des Projekts durch die Publikumsreaktionen passierte und Schlingensief nur von Tag zu Tag choreografierte. Dass wichtige Künstler wie Elfriede Jelinek und Paulus Manker einen Tag mit den Flüchtlingen verbrachten, sei spontan so entstanden, so Philipp. „Das war noch eine Aktion vor Facebook“, gab er zu bedenken, „wenn damals etwas gesagt wurde, wurde es erst sieben Stunden später berichtet und zehn Stunden später berichtigt.“ Schlingensief habe immer die Kommunikation mit dem Publikum gesucht und verstanden, wie wichtig dessen Reaktion sei, so Philipp.

Regisseur Christoph Schlingensief
Filmgalerie 451
Er dachte immer in filmischen Kategorien. Still aus der Doku „Schlingensief – In das Schweigen hineinschreien.“

Gewissermaßen schuf Schlingensief den Raum für theatralische politische Formen der nächsten Jahre. Sei es der Wahlkampf des ehemaligen Chefredakteurs des Satiremagazins „Titanic“, der mit seinem Projekt „Die Partei“ seit 2004 als Abgeordneter im Europäischen Parlament sitzt, sei es die Aktionen des „Zentrums für politische Schönheit“, die ebenso in dem von Schlingensief abgesteckten Bezugsrahmen agieren, wie auch die künstlerischen und medialen Interventionen in die österreichische Innenpolitik durch Jan Böhmermann und das politische Theater Milo Raus.

Buchcover von „Kein falsches Wort jetzt“ von Christian Schlingensief
KiWi Verlag
Christoph Schlingensief: Kein falsches Wort jetzt. Gespräche. Kiepenheuer & Witsch, 335 Seiten, 23,70 Euro.

Gedenken an einen Ausnahmekünstler

Zehn Jahre nach Schlingensiefs frühem Krebstod erinnert man sich 2020 intensiv an den Ausnahmekünstler. Philipp kuratierte zusammen mit der Festivaldirektorin Eva Sangiorgi für die Viennale 2020 eine Retrospektive zum Werk Schlingensiefs namens „Say Goodbye to the Story“. Darin wird neben einem Überblick über das filmische Schaffen neues Material aus dem Nachlass präsentiert werden. Die bei der Berlinale vorgestellte Schlingensief-Dokumentation „Schlingensief – In das Schweigen hineinschreien“ von Bettina Böhler wird in diesem Rahmen ihre Österreich-Premiere feiern.

„Ein wesentlicher Teil der Retrospektive wird Material sein, das man außerhalb des theatralischen oder kunstinstallativen Kontextes oder in dieser Gestaltungsweise noch nicht gesehen hat“, sagte Kurator Philipp ORF.at. Wesentlich in das Projekt involviert war Schlingensiefs Witwe Aino Laberenz. Sie fungiert auch als Herausgeberin einer Neuerscheinung zum zehnten Todestag Schlingensiefs, einer Sammlung von Interviews, die er ab 1993 gegeben hat. Darin sieht man, wie sehr Schlingensief immer Regisseur blieb, auch im Umgang mit Gesprächspartnern und der Öffentlichkeit.