Für den Urlaub daheim ist das Ausseerland eine der beliebtesten Gegenden Österreichs: „In einem von stattlichstem Hochgebirge umschlossenen Kessel, unfern des gewaltigen Dachstein gelegen“, heißt es in einem Werbetext aus 1889, „ist Aussee ein climatischer Curort ersten Ranges, welcher alle Annehmlichkeiten in gesellschaftlicher Beziehung bietet.“ So erholsam entlegen die Landschaft ist, die weite Welt war hier immer schon näher als anderswo.
Am Schicksal der kosmopolitischen Ausseerin und konvertierten Jüdin Lilli Baitz wird das deutlich: Die international tätige Künstlerin und Unternehmerin blieb ihrem Herkunftsort stets eng verbunden, während sie von Berlin aus ab den 1910er Jahren in ganz Europa und den USA erfolgreich war. Doch 1938 wurde ihr Berliner Unternehmen arisiert und produzierte in den Folgejahren vor allem Propagandamaterial für die „Deutsche Reichsbahnzentrale“. Nach Baitz’ Rückkehr nach Bad Aussee wurde sie ab 1938 auch hier wegen ihrer jüdischen Herkunft vom NS-Regime drangsaliert. Am Vorabend ihrer Deportation, dem 14. August 1942, beging sie Suizid.
Alpenpost und Sanatorium
Bekannt ist Baitz heute vor allem für ihre Trachtenkrippen und -puppen. Geboren wurde sie 1874 als jüngste Tochter von Josef und Clara Schreiber, eines jüdischen, später zum Katholizismus konvertierten Paares. Vater Josef war Kurarzt, seine Frau Schriftstellerin, Frauenrechtlerin und Saloniere. Ende der 1860er Jahre gründete er das erste Sanatorium in Aussee, was für die abgelegene Salzkammergut-Gemeinde den Beginn eines enormen Aufschwungs markierte. Clara Schreiber war bald Mittelpunkt der hiesigen Gesellschaft, in ihrem Salon trafen sich Fürstinnen, Schauspieler, Autorinnen und Denker, Theodor Herzl etwa spielte mit den Töchtern Tennis – und sie war Gründerin und erste Chefredakteurin der „Steirischen Alpenpost“.
Das Ehepaar Schreiber hatte drei Töchter: Lilli, die mittlere Schwester Adele, eine Feministin, Journalistin und sozialdemokratische Reichstagsabgeordnete in der Weimarer Republik, und Ida. Lilli hatte Kunstschulen in Florenz und München besucht, außerdem die k. k. Kunstgewerbeschule in Wien, als Hospitantin in der Fachklasse für Architektur von Prof. Josef Hoffmann. Die beiden jüngeren Schwestern verband eine innige Freundschaft. Als das verschuldete Sanatorium nach dem Tod der Eltern 1910 versteigert wurde, hatte Lilli sich mit ihrem Ehemann Roman Baitz bereits in Berlin niedergelassen, in der Nähe von Adele Schreiber.
Durchbruch mit Kartoffelköpfen
Für eine Abendeinladung ihrer Schwester bastelte Lilli 1909 witzige, aufwendige Tischkarten – und die kamen so gut an, dass sie erste Aufträge bekam. Für den Weinhändler Kempinski fertigte sie Figuren zu verschiedenen Weinsorten, mit geschnitzten Kartoffelköpfen und Trachten aus der jeweiligen Weinregion. Das fulminante Echo veranlasste Lilli und Roman Baitz zur Gründung des Wiener Kunstgewerbeateliers Lilli.
Bestellungen großer Kaufhäuser und Firmen folgten, bald auch international: Karstadt Hamburg, Harrod’s London, Herzmanski Wien, die Schifffahrtsgesellschaft HAPAG und viele andere. Vielfach umfassten ihre Dekorationen ganze Szenen mit mechanischen Teilen, etwa Weihnachtslandschaften, Märchenszenen, Tier- und Fabelgeschichten, oft nach umfassender Recherche, etwa wenn Trachtenmotive oder architektonische Zitate zum Einsatz kamen.
Der Einfallsreichtum war enorm: Für die Filmproduktionsfirma Metro-Goldwyn-Mayer etwa wurden lebensgroße Figuren von Laurel und Hardy hergestellt, die im Frühling 1934 in verschiedenen Berliner Kaffeehäusern als Gäste saßen, um den Film „Die Wüstensöhne“ zu bewerben. Im amerikanischen Kaufhaus „Kaufmann’s, the Big Store“ in Pittsburgh bestellte man alljährlich Dekorationen mit Szenen aus der Entdeckungs- und Gründungsgeschichte Amerikas.
Rückkehr ins Ausseerland
Eine vermutlich für dieses Kaufhaus hergestellte Weihnachtskrippe wurde in Bad Aussee derart bewundert, dass auch in der Ausseer Kirche eine solche Krippe aufgestellt wurde. Es ist genau die Krippe, die noch heute im Kammerhofmuseum Bad Aussee zu sehen ist. Mit dem wachsenden Interesse für Gebirgstrachten, an dem der ebenfalls Aussee eng verbundene Volkstumsforscher Konrad Mautner großen Anteil hatte, veränderte sich auch die Nachfrage bei der Firma Baitz, die Nachfrage für Trachtenpüppchen stieg.
Nach dem Ersten Weltkrieg waren Lilli und Roman Baitz nach Salzburg-Parsch übersiedelt und hatten hier eine weitere Werkstatt aufgebaut. Die Salzburger Presse berichtete regelmäßig anerkennend über das „kunstsinnige“ Paar. Nach dem frühen Tod von Roman 1930 kehrte Lilli Baitz nach Aussee zurück und ließ sich ein Häuschen errichten, in dem sie mit ihrer engen Freundin Paula Schmidl lebte. Sie hatte nun auch hier eine Werkstatt. Das Wiener Kunstgewerbeatelier L. & R. Baitz in Berlin führten langjährige Mitarbeiter, Baitz stand ihnen beratend zur Seite.
Auch in Bad Aussee war Baitz ab dem „Anschluss“ 1938 zunehmend antisemitischen Anfeindungen ausgesetzt gewesen. Weil sie die Witwe eines „arischen“ Ehemannes war, musste sie nicht von Beginn an schlimmste Repressalien ertragen, doch sie bekam Post von der Gestapo aus Linz, etwa dass sie ihre Winterkleidung, „die sie nicht unmittelbar für den persönlichen Gebrauch benötigt“, abzugeben habe.
Das Berliner Unternehmen wurde unterdessen von Baitz’ langjährigem Mitarbeiter Paul Friedel weitergeführt, weitgehend in Absprache mit Baitz, vermutet die Historikerin Barbara Motter. Neuer Besitzer war der Reichbahndirektor i. R. Franz Schenck, der wichtigste Auftraggeber des Ateliers war nun die Reichsbahnzentrale für den Deutschen Reiseverkehr. Dafür lieferte das Atelier Schaufensterdekorationen für Bahnhöfe im Ausland, „um der Feindpropaganda wirkungsvoll entgegenzutreten“, hieß es in einem offiziellen Papier. „Die bestellten Schaufensterszenen, darunter eine Trachtenpuppenserie ‚Aus deutschen Gauen‘, wurden als höchst bedeutend für die NS-Propaganda eingestuft“, so Motter.
Trotzdem wurde die Bedrohung für Baitz immer greifbarer. Bei einem Besuch in der Schweiz bei ihrer Schwester Adele, die längst aus Berlin geflüchtet war, beschwor diese sie vergebens, nicht wieder nach Bad Aussee zurückzukehren. Lillis Freundin Schmidl bemühte sich in Briefen an die NS-Behörden verzweifelt, die alte Dame vor dem Schlimmsten zu bewahren, eine Zwangsübersiedelung nach Wien konnte sie so zumindest herauszögern. Im August 1942 sollte Baitz jedoch tatsächlich deportiert werden. Sie wurde vorgewarnt und beging mit Hilfe eines befreundeten Arztes am 14. August 1942 Suizid.
Niedlich bis zuletzt
Das Unternehmen lief indessen in Berlin weiter. Nach einem Bombenschaden musste der Betrieb in der provisorischen Werkstatt in Bad Aussee weitergehen, wofür sogar Ausseerinnen kriegsdienstverpflichtet wurden. Noch im Mai 1943, die Schlacht von Stalingrad war gerade verloren, sollten die drei Schaustücke „Gutenberg-Druckerei“, „Altdeutsche Weinstube“, und „Alpenstraße“ in 17-facher Ausführung möglichst schnell geliefert werden.
Nach dem Krieg wurde L. & R. Baitz Nachfolger von langjährigen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern neu gegründet, übersiedelte vorerst komplett nach Bad Aussee und 1947 nach Lustenau in Vorarlberg, das mit seiner Textilindustrie weitgehend von Kriegsschäden verschont geblieben war. Die als „Baitz-Puppen“ mit süßlichen Gesichtszügen zum Exportschlager gewordenen Trachtenpuppen wurden noch bis in die sechziger Jahre produziert und sind heute begehrte Sammlerobjekte.
Weitestgehend vergessen
Das Schicksal ihrer Namensgeberin war aber lange Zeit vergessen. Zuletzt gab es 2012 eine Ausstellung im Kammerhofmuseum Bad Aussee unter Mitarbeit von Motter und der Leiterin des Spielzeugmuseums Blons, Marlies Jenny-Bruggmüller. Heute ist hier nur die Trachtenkrippe zu besichtigen. Der Nachlass des Unternehmens befindet sich in der Sammlung des Spielzeugmuseums Blons in Vorarlberg, die privaten Erinnerungen an Lilli Baitz, ihre berühmte Schwester Adele Schreiber und ihre Familie sind größtenteils im Archiv des Jüdischen Museums Hohenems.
Das Haus, das Lilli Baitz sich und ihrer Freundin Paula Anfang der 1930er Jahre in Bad Aussee im Ortsteil Lerchenreith bauen ließ, sieht aus wie damals. Inzwischen liegt es nicht mehr allein auf der Hügelkuppe, weitere Einfamilienhäuser, ein Supermarkt und die Umfahrungsstraße sind herangerückt. Keine Tafel erinnert an Baitz, ein „Privatbesitz! Betreten verboten“-Schild vertreibt Neugierige. Die Gräber von Clara und Josef Schreiber und ihrer Tochter Lilli auf dem Friedhof in Bad Aussee sind längst aufgelassen. Nur für den Sanatoriumsbegründer und Ausseer Ehrenbürger Josef Schreiber existiert noch ein Denkmal an der Rückseite des Kammerhofmuseums.