Labortechniker entnimmt Proben
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Coronavirus-Ausbreitung

Die Rolle der Symptomlosen

Kein Fieber, kein Halsweh, keine Probleme mit Geruchs- und Geschmackssinn: Jeder Vierte, der im Moment in Österreich positiv auf das Coronavirus getestet wird, ist vollkommen symptomfrei. Forscherinnen und Forscher versuchen zu klären, welche Rolle diese Personen bei der Ausbreitung des Virus spielen.

In den knapp neun Monaten seit dem ersten Auftreten von SARS-CoV-2 hat die Wissenschaft viel über Erreger gelernt. Eine wichtige Erkenntnis betrifft die Frage, wann jemand das Virus überträgt. Betroffene können bereits einige Tage ansteckend sein, bevor sich Krankheitsanzeichen zeigen.

„Etwa 40 Prozent der Infizierten haben sich bei Menschen angesteckt, die noch keine Symptome hatten“, sagte die Virologin Judith Aberle von der MedUni Wien gegenüber ORF.at unter Verweis auf zwei Forschungsarbeiten von Wissenschaftlern aus Italien, England und China. „Die Infektiosität ist am Tag vor bzw. bei Auftreten der ersten Symptome am höchsten“, so die Medizinerin.

25 Prozent der Neuinfektionen asymptomatisch

Ansteckende Personen werden in drei Gruppen eingeteilt: Erstens die Symptomatischen, die bereits deutliche Anzeichen der Infektion spüren. Zweitens die Präsymptomatischen. Sie haben noch keine Symptome entwickelt. Drittens die Asymptomatischen, bei denen die Infektion unbemerkt verläuft und die – sofern sie nicht zufällig bei einem Screening-Programm entdeckt werden – durch jedes Raster fallen.

In Österreich sind die CoV-Infektionen in den vergangenen Wochen stark gestiegen. Bei knapp einem Viertel der Betroffenen verlief die Infektion asymptomatisch, zeigt eine Auswertung der österreichischen Agentur für Gesundheit und Ernährungssicherheit (AGES) für die Kalenderwochen 32 und 33 (3. bis 9. sowie 10. bis 16. August).

Reiserückkehrende ohne Symptome

Auch bei dem derzeit laufenden Screening-Programm des Gesundheitsministeriums für Kroatien-Rückkehrende ist die Zahl der asymptomatischen Fälle hoch. Von den mehr als 14.000 durchgeführten Tests waren 279 positiv. „Mit so vielen Interessierten haben wir absolut nicht gerechnet. Alle waren ja ohne Symptome – mit Symptomen hätten sie ja ohnedies einen Zugang zum Gratistest via 1450“, sagte Gesundheitsminister Rudolf Anschober (Grüne) vergangene Woche. Die Wiener Behörden warnten, dass asymptomatische Reiserückkehrer das Virus stark verbreiten könnten – mehr dazu in wien.ORF.at.

Seit Beginn der Pandemie verfolgen die Fachleute der AGES im Rahmen von Cluster-Analysen mit den Gesundheitsbehörden die Infektionsketten. Für das „Übertragungsgeschehen“ seien die asymptomatisch Infizierten wahrscheinlich von geringerer Bedeutung, im Gegensatz zu den präsymptomatisch Infizierten, die „häufig Ausgang von ‚Superspreading Events‘ sein können“, sagte AGES-Chefepidemiologe Franz Allerberger im Gespräch mit ORF.at. Fast 12.000 der in Österreich insgesamt registrierten mehr als 25.000 CoV-Fälle konnten bisher einzelnen Clustern zugeordnet werden.

Gesundheitspersonal testet Mann in einem Auto
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Auch unter den positiv getesteten Rückkehrenden aus Kroatien ist der Anteil der asymptomatischen Fälle hoch

International sind allerdings Fälle beschrieben, in denen sich Personen bei Asymptomatischen angesteckt haben. „Es wurde gezeigt, dass das Virus sowohl von symptomatischen als auch präsymptomatischen und asymptomatischen Personen übertragen wurde“, sagte Virologin Aberle. Laut Aberle wurde aufgrund von epidemiologischen Untersuchungen und Viruslastbestimmungen bei Infizierten aus Italien geschätzt, dass asymptomatisch Infizierte zwischen vier und sechs Tage infektiös sein können. „Es ist wichtig, dass sich Kontaktpersonen isolieren, auch wenn sie noch keine Anzeichen der Krankheit zeigen“, so Aberle.

Alter der Neuinfizierten sinkt

Während die asymptomatischen Infektionen zunehmen, stagniert der Wert der Personen, die wegen des Coronavirus im Spital behandelt werden müssen. Diese Entwicklung lässt sich bereits seit einiger Zeit beobachten – in Österreich, aber auch anderen europäischen Ländern, die Zuwächse bei den Neuinfektionen verzeichnen. Die Gründe dafür sind Gegenstand intensiver wissenschaftlicher Debatten.

Eine mögliche Erklärung für das Phänomen: Das Coronavirus betrifft zunehmend Jüngere. In der Kalenderwoche 33 lag das Durchschnittsalter der CoV-Neuinfizierten laut AGES-Analyse bei 32,1 Jahren. „Wir sehen, dass sich die Altersverteilung (seit Pandemiebeginn, Anm.) deutlich verändert hat“, sagte Allerberger. „Die jungen Leute, die betroffen sind, werden zum Glück nicht so krank, dass sie ins Spital müssen.“

Labortechnikerin bei der AGES
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Die Zahl der Neuinfizierten in Österreich und anderen europäischen Ländern steigt stark – die Zahl der Hospitalisierungen stagniert

Auch tritt immer deutlicher zutage, welche Gefahr das Coronavirus für Menschen höheren Alters darstellt. Australische Forscherinnen und Forscher haben in einer kürzlich veröffentlichten Arbeit die Sterberate an Covid-19 in zwölf Ländern unter die Lupe genommen. Fazit: Für die Gruppe der 70- bis 79-Jährigen wurde eine Sterberate von vier Prozent ermittelt, bei den 80- bis 89-Jährigen verstarb jeder zehnte Erkrankte, bei der Gruppe der über 90-Jährigen jeder vierte.

Bei Kindern und jungen Erwachsenen tendiert die Sterberate gegen null. In ganz Europa seien seit Beginn der Pandemie erst zwei Jugendliche unter 13 an Covid-19 gestorben, so Allerberger. Beide hätten an schweren Grunderkrankungen gelitten. Das bedeutet nicht, dass Jüngere die Infektion auf die leichte Schulter nehmen sollten. Was sich seit Pandemiebeginn immer deutlicher herauskristallisiert, ist, dass eine Coronavirus-Infektion schwere Langzeitfolgen nach sich ziehen kann.

Herausforderungen im Herbst

Eine der großen Herausforderungen im Herbst wird das Zusammentreffen des Coronavirus mit anderen Winterinfekten. Husten, Halsweh, Heiserkeit, verstopfte Nase und damit einhergehende Probleme mit dem Geruchs- und Geschmackssinn sind Symptome, die auch von einem gewöhnlichen Schnupfen ausgelöst werden können. „90 Prozent, wenn nicht mehr der Infekte werden nicht Covid, sondern die normalen Winterinfekte sein“, so Allerberger. Nachsatz: „Die niedergelassenen und praktischen Ärzte sind hier gefordert. Wie man das löst, ist eine andere Geschichte.“

Ärztin in einer Praxis
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Das Zusammentreffen von CoV mit anderen Winterinfekten wird eine Herausforderung. Hausärztinnen und Hausärzte werden besonders gefordert sein.

Dass sich jeder, der ein Kratzen im Hals spürt, für zwei Wochen selbst isoliert, werde im Herbst in der Praxis nicht umsetzbar sein, sagte Allerberger. Eine Lösung für das Problem habe er nicht, sagte der AGES-Chefepidemiologe. Er rät, im Herbst und Winter Abstandsregeln in Innenräumen möglichst genau einzuhalten. Und die Maske in Innenräumen „wird uns in vielen Situationen nicht erspart bleiben“, so Allerberger.

„Optimierungspotenzial“ bei Testungen

Zur Bewertung des Infektionsgeschehens wird am 4. September die „Corona-Ampel“ mit den Farbstufen Grün, Gelb, Orange und Rot ihren Betrieb aufnehmen. Vier Faktoren werden dabei ausschlaggebend sein, wie Anschober in der Vorwoche im ZIB2-Interview sagte. In die Beurteilung einfließen werden der Siebentagesschnitt der Infektionen, die Nachvollziehbarkeit der Ansteckungen, die Spitalskapazitäten sowie der Anteil der positiven Testungen an der Gesamtzahl der Tests.

Entscheidend für den Herbst wird sein, wie schnell Infektionsketten erkannt und durchbrochen werden können. Die rasche Ermittlung von Krankheitsclustern hat in Österreich bisher sehr gut funktioniert. Der überwiegende Teil der Neuinfektionen ließ sich im August kleineren Clustern in Haushalten zuordnen, zeigt eine ORF.at vorliegende Auswertung. Auch Reiserückkehrende, vor allem aus Kroatien und dem Kosovo, spielten eine Rolle. Infektionsketten gingen auch von einigen Lokalen in Wien und Asylunterkünften in Innsbruck aus.

Laborsituation in Südkorea
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Entscheidend für den Herbst wird sein, wie schnell Infektionsketten nachvollzogen und durchbrochen werden können

Allerberger begrüßt, dass im Ampelsystem der Anteil der aufgeklärten Cluster berücksichtigt ist. Wenn man – wie im Fall des CoV-Ausbruchs in einem Wiener Postverteilzentrum – plötzlich auf einen Schlag 100 neue, aber nachvollziehbare Fälle habe, schrecke ihn das weniger als 20 neue Fälle ungeklärter Herkunft, sagte Allerberger. Bei den Testungen sieht er noch „Optimierungspotenzial“. Dass jemand bei 1450 drei Stunden in der Warteschleife hängt und am Ende nicht durchkommt, dürfe im Herbst nicht vorkommen.

Public-Health-Experte fordert Gelassenheit

Der Grazer Public-Health-Experte Martin Sprenger plädierte für Gelassenheit beim bevorstehenden Schulstart im Herbst. An die Politik appellierte Sprenger im Ö1-Interview, Abstand von „unnötigem Aktionismus und unnötiger Angstmacherei“ zu halten.

Sprenger regte an, Sentinelpraxen, die das Auftreten von Infektionen im niedergelassenen Bereich bzw. außerhalb der Krankenhäuser erfassen, weiter auszubauen. Außerdem sollten Diagnosen im niedergelassenen Bereich erfasst werden. Das sei noch „ein blinder Fleck, der eigentlich peinlich ist für ein reiches Land wie Österreich“, so Sprenger.