Bild zeigt eine syrische Frau mit ihrem Kind.
AP/Hussein Malla
Libanon

Geflüchteten droht Hunger

Der Libanon kämpft mit mehreren Krisen gleichzeitig: der Massenflucht aus dem benachbarten Syrien, der Coronavirus-Pandemie, dem wirtschaftlichen Zusammenbruch und nun auch mit den Folgen der gewaltigen Explosionen in der Hauptstadt Beirut. Millionen Menschen droht Hunger. Besonders hart trifft es die vielen Geflüchteten im Land.

Seit 2011 hat der Libanon knapp eine Million vor dem langjährigen syrischen Bürgerkrieg Geflüchtete aufgenommen. Zusammen mit den rund 450.000 palästinensischen Geflüchteten, die seit dem arabisch-israelischen Krieg 1948 im Libanon leben, macht der Anteil der Geflüchteten bei rund 4,5 Millionen libanesischer Einwohnerinnen und Einwohner rund ein Viertel aus – auf einer Fläche von nicht einmal jener von Tirol.

Die Errichtung von offiziellen Flüchtlingscamps gab es für die Syrer nicht, weil nach Ansicht des libanesischen Staats aus den einstigen palästinensischen Flüchtlingscamps nach Jahrzehnten Stadtteile entstanden waren, in denen sich der bewaffnete Widerstand der Palästinenser organisiert hatte. Syrische Geflüchtete leben in Städten, Dörfern und in Zeltsiedlungen, die nicht offiziell als Flüchtlingscamps deklariert sind. Sie stecken in überfüllten Wohnungen, Hütten, Baracken und Behausungen aus Plastikplanen – oft ohne Küche und Toilette, ohne Strom und fließendes Wasser.

Arbeitslosigkeit und bittere Armut

Einer Erhebung der UNO zufolge haben 80 Prozent keine Aufenthaltserlaubnis. Auch Arbeit dürfen syrische Geflüchtete offiziell keine annehmen – es sei denn in der Landwirtschaft, auf dem Bau und als Putzkraft. Und auch dafür benötigen sie eine Genehmigung, die mehr kostet, als sie sich oft leisten können, und die Bürgschaft eines Arbeitgebers. Die meisten hatten bereits vor dem coronavirusbedingten Lockdown und der Katastrophe in Beirut, die die Arbeitslosigkeit im Land auf 60 Prozent katapultierten, keinen Job.

Syrische Flüchtlinge auf provisorischen Betten vor ihren zerstörten Unterkünften.
AP/Felipe Dana
Viele Geflüchtete haben nicht einmal ein Dach über dem Kopf

Was diese Menschen am härtesten trifft, sind die steigenden Lebenshaltungskosten. Denn der Libanon steckt derzeit in seiner schwersten Finanz- und Wirtschaftskrise seit dem Bürgerkrieg von 1975 bis 1990. Die Währung befindet sich im freien Fall, die Grundpreise für Lebensmittel haben sich vervielfacht und weite Teile der Bevölkerung in die Armut getrieben. Nach Angaben der Weltbank lebte schon 2018 etwa ein Viertel der Bevölkerung unter der Armutsgrenze, nach aktueller Schätzung dürften es inzwischen mehr als 55 Prozent sein.

Nicht mehr genug Lebensmittel

Fatal wirkt sich auch die Zerstörung des Beiruter Hafens aus – der Lebensader eines Landes, das bis zu 80 Prozent seines Bedarfs an Nahrung importieren muss. Bei den Explosionen am 4. August wurden auch der Terminal, durch den das meiste Getreide, Linsen, Obst und Gemüse, Öl und sogar die Kichererbsen für Hummus kamen, sowie die Verladestation zerstört.

Bild zeigt den zerstörten hafen von Beirut.
APA/AFP/Str
Mit dem Hafen in Beirut wurde auch die Kornkammer des Landes zerstört

Wegen der schweren Zerstörungen sind Millionen Menschen nun von Lebensmittelknappheit und Hungersnot bedroht. Hilfsorganisationen warnen davor, dass sich das Elend in den kommenden Monaten dramatisch verschärfen werde – insbesondere unter syrischen Geflüchteten und Kindern. Allein im Großraum Beirut kämpfen laut Save the Children gegenwärtig mehr als 500.000 Kinder ums Überleben. Die meisten von ihnen gehen nicht zur Schule und können weder lesen noch schreiben.

Aussichtslose Situation

Rund die Hälfte aller Libanesen fürchtet laut einer Umfrage, in einigen Wochen nicht mehr genug zu essen zu haben. Noch mehr sorgen sich allerdings die Geflüchteten im Land um ihre Zukunft. Laut einem Bericht des Welternährungsprogramms machen sich gut zwei Drittel der im Libanon lebenden Palästinenser Sorgen um ihre Ernährung, unter den Syrern sind es sogar 75 Prozent.

Die aussichtslose Situation, in der sich viele befinden, lässt die Zahl von „Hungerdelikten“ steigen. Wie die Nachrichtenagentur AFP berichtete, beobachte die Polizei eine „neue Art von Diebstahl“. Gestohlen würden unter anderem Lebensmittel, Babymilch und Medikamente. Die Weltbank schätzt, dass drei Viertel der libanesischen Bevölkerung am Ende des Jahres von Lebensmittelspenden abhängen werden.

„Eine multiple Krise“

Das Unglück treffe das Land schwer, die Lage im Libanon sei zuletzt zunehmend dramatisch gewesen, sagte die Direktorin der Caritas Libanon, Rita Rhayem, und sprach von einer „multiple Krise“ – auch ohne Explosion. Der erst kürzlich abgelöste Ministerpräsident, Hassan Diab, hatte bereits vor der Zerstörung des Beiruter Hafens vor einer schweren Lebensmittelkrise in seinem Land gewarnt.

Ein syrischer Flüchtling wandert durch die zerstörten Straßen Beiruts.
AP/Felipe Dana
Das tägliche Leben in Beirut ist ein ständiger Kampf gegen das Elend

„Viele Libanesen haben bereits aufgehört, Fleisch, Obst und Gemüse zu kaufen, und könnten bald sogar Schwierigkeiten haben, sich Brot zu leisten“, hatte Diab in einem Ende Mai veröffentlichten Beitrag für die „Washington Post“ geschrieben und eingeräumt, dass jahrzehntelanges politisches Missmanagement und Korruption eine der Hauptursachen der Krise seien.

Rückkehr unmöglich

Auch eine Rückkehr nach Syrien ist für die Geflüchteten nahezu unmöglich. Die meisten sind vermutlich aus Oppositionsgebieten geflohen, die vom Regime von Baschar al-Assad bombardiert wurden. Viele ihrer Häuser wurden beschädigt, zerstört oder von anderen Personen bezogen. Zudem ist die Sicherheitslage prekär, denn nach wie vor verübt die Terrormiliz Islamischer Staat (IS) Anschläge. UNO-Schätzungen zufolge sind mehr als 10.000 IS-Kämpfer in Syrien aktiv.

Rückkehrerinnen und Rückkehrern wird misstraut, weil sie als Gegner des Assad-Regimes gelten. Beim kleinsten Verdacht drohen ihnen staatliche Repressionen und Verfolgung. Einer Rückkehr steht zudem entgegen, dass das Assad-Regime eine solche ohnehin verhindern will. Per Dekret wurde 2018 die Enteignung von Besitz von Syrern erleichtert, die das Land verlassen haben. Trotzdem sind nach Angaben der Regierung in Beirut bisher rund 100.000 Syrer aus dem Libanon in ihre Heimat zurückgekehrt, mehr als aus jedem anderen Land.