Kleiderhaken mit Marken von verschiedenen Kleidungsgrößen
Getty Images/iStockphoto/Razvan
Roulette am Etikett

Wieso die richtige Größe oft nicht passt

Dank der Pandemie erfährt das Onlineshopping neue Beliebtheit: Kleidung wird auf der ganzen Welt bestellt, verschickt – und zurückgesendet, oft weil sie einfach nicht passt. Denn Kleidungsgrößen sind relativ, weit mehr als noch vor wenigen Jahrzehnten. Dafür gibt es Gründe und Abhilfen.

Das ganze Erwachsenenleben lang immer die gleiche Kleidergröße zu kaufen ist heute nicht so einfach, selbst wenn das Gewicht gleich bleibt. Passt jemandem im Designerladen ein Kleidungsstück perfekt, schwimmt er oder sie womöglich bei der Stangenware derselben Größe – und umgekehrt. Die erratischen Größen sind ein ewiges Ärgernis für die Kundschaft – aber auch für den Handel.

Bekleidungsfirmen wollen freilich ihre Ware verkaufen, müssen aber wirtschaftlich handeln. Eine Maßanfertigung für alle ist in dieser Rechnung nicht drin. Man orientiert sich also am Durchschnitt. Für den deutschsprachigen Raum wird der Mittelwert mit Hilfe von Reihenmessungen errechnet, das erledigt das deutsche Hohenstein Institute. Es führt seit 1957 regelmäßig Reihenmessungen für die Bekleidungsindustrie durch, um Größentabellen und Konfektionsgrößen zu entwickeln. Die jüngste flächendeckende Messung stammt aus den Jahren 2007 bis 2009, damals wurden über 13.000 Männer, Frauen und Kinder mit 3-D-Technologie gescannt.

Heraus kam, dass sich sowohl Körpermaße als auch -formen stark verändert hatten, viele Schnitte orientieren sich aber noch an veralteten Einschätzungen. „Wir sind im Durchschnitt heute größer und kräftiger als unsere Eltern und Großeltern“, so das Institut. Der Anteil der großen Größen bei den Frauen ist gestiegen, im Vergleich zu 1994 „wuchsen“ Frauen fast einen Zentimeter, sie nahmen rund vier Zentimeter an der Taille zu und 1,8 Zentimeter an den Hüften. Bei den Männern, deren Vergleichswerte noch aus Daten aus den 1960er Jahren stammten, nahm vor allem der Brustumfang zu: um ganze 7,3 Zentimeter. Bei der Taille wurde ein Plus von 4,4 cm, bei den Hüften 3,6 cm gemessen.

Schmeichelgrößen für das gute Gefühl

Auch Österreich orientiert sich an den deutschen Messungen. Im Jahr 2002 wurde die ÖNORM EN 13402 für die aktuell geltende Größenbezeichnung von Bekleidung auf Basis der Daten vom Hohenstein Institute eingeführt. Erklärungen für diese Norm liefert Austrian Standards, das Normenstandards in Österreich schafft: Die Norm definiert Körpermaße für Bekleidung, beschreibt ein Normverfahren zur Messung des Körpers und gibt Piktogramme zur Anwendung an Bekleidungsetiketten an.

Menschen früher kleiner

Dass sich Körper mit der Zeit verändern, nennt man „säkulare Akzeleration“: Sie beschreibt die Beschleunigung der somatischen Entwicklung mit der Zeit. Das betrifft nicht nur Größe, sondern auch Merkmale bei der Entwicklung zur Geschlechtsreife oder die Menopause.

Doch der richtigen Passform stehen noch etliche Hürden entgegen. Es gibt etwa keine gesetzliche Vorgabe zu Kleidergrößen, die Produzenten entfalten sich hier frei. Aus Gründen der Fokussierung auf bestimmte Zielgruppen kann ein „S“ im Etikett stehen – um den Kunden und Kundinnen etwa ein gutes Gefühl zu geben – dann ist von Schmeichelgrößen die Rede. Es kann aber auch als „L“ gekennzeichnet sein, etwa falls die Zielgruppe junge Kundschaft ist, die generell kleinere oder schmalere Größen sucht.

Zahlreiche Faktoren

Auch regionale Unterschiede können problematisch sein für Größenangaben: Der Unterschied in der Körperhöhe variiert von Land zu Land. Zwischen Menschen in Nord- und jenen in Südeuropa liegen circa 80 Millimeter, so Austrian Standards. Manche Länder nahmen zudem noch nie systematische Messungen an der eigenen Bevölkerung vor. Kommt ein Produkt also aus dem Ausland, sehen sich Wiederverkäufer oft gezwungen, neue Etiketten einzunähen. Das Sortiment großer Textilketten erstreckt sich auf mehrere Länder, mitunter Asien, wo kleinere Größen nötig sind.

Die Tiroler Firma Sportalm macht zudem auf das Material aufmerksam: „Wir haben unsere Grundschnitte, aber wenn wir ein und denselben Schnitt aus drei verschiedenen Stoffen nähen, kriegen wir drei Teile mit unterschiedlichen Maßen raus“, hieß es gegenüber ORF.at. Daher seien Vorläufer und Produktionsmuster wichtig. Der Wiener Hersteller Breddy’s stellt Kleidung aus Rizinus her, wofür es wohl keine serienmäßigen Vorläufer gibt. Die Firma führt daher an, dass es neben unterschiedlichen Schnittsystemen zusätzlich auch noch auf Schnitterfahrung und Schulung ankommt, wie gut Kleidungsstücke passen. Auch „welche Gewichtung das Thema bei der jeweiligen Marke hat“, sei wichtig.

Standardgrößen und die Wirklichkeit

Was noch stärker ins Gewicht fallen dürfte: Die Konfektionsgrößen der Standardgrößentabellen decken nur ca. 30 Prozent der Bevölkerung ab, sagt das Hohenberg Institute. „70 Prozent passen nicht optimal in eine Standardgröße. Der Grund: Die Körperformenvielfalt der Menschen ist enorm.“ Oft werden die Figurformen der Menschen nicht ausreichend miteinbezogen.

Die ukrainische Schudesignerin Tatyana Manshykh mit einem Paar Herrenschuhe der Größen 63
APA/AFP/Viktor Drachev
Früher waren die Menschen kleiner – aber auch heute sind Schuhe der Größe 63 (Bild) eine Seltenheit

Würden bei der Herstellung oder beim Angebot von Damenkleidung etwa nicht nur die Normalgröße berücksichtigt, sondern auch noch extra Lang- bzw. Kurzgröße sowie die Charakteristika „schmalhüftig“ und „starkhüftig“, würden rund 75 Prozent des tatsächlichen Marktes abgedeckt. Es würden also drei Viertel der Konsumentinnen perfekt passende Kleidung finden, sagt das deutsche Institut. Bei den Männern stelle sich das sogar noch extremer dar. „Eine Größe 50 müsste eigentlich in 25 unterschiedlichen Varianten produziert werden.“ All das wäre aber freilich „sowohl betriebswirtschaftlich als auch logistisch kaum umzusetzen“.

Per App zum angegossenen Sitz

Abhilfe im Wirrwarr soll Technologie bringen: Eigene Systeme und Apps sollen Käuferinnen und Käufern die Wahl der richtigen Größe erleichtern. Die ganze Branche arbeite „mit Hochdruck“ an Lösungen, heißt es von Sportalm. Man wolle bei Onlinekäufen unbedingt vermeiden, dass zwei Teile pro Modell rausgehen. Das bedeute eine automatische Retoursendung, wenn die nicht passende Größe zurückgeschickt wird.

Manche Apps messen den Körper von allen Seiten, um ein dreidimensionales Bild zu erhalten. Der Handel kann die 3-D-Avatare hochladen und virtuell bekleiden. Eine weitere Art, mit Hilfe des Smartphones an passgenaue Kleidung zu gelangen, sind Apps, die die Körpergröße nicht per Kamera, sondern mit Hilfe eingebauter Sensoren messen. Das soll vor allem die Proportionen genauer messen können, Daten, auf die Händler dann zugreifen können.

Folgen der „Fast Fashion“

Wie es nicht geht, das zeigte das teure Experiment von Zozosuit, dem der Erfolg in Europa verwehrt blieb. Das japanische Start-up wollte mit seiner App 2018 den Onlinehandel revolutionieren, wählte aber einen eigenen Zugang: Die Firma versandte Ganzkörperanzüge mit Messpunkten, mit denen dann potenzielle Kunden ihren Körper vermessen konnten. Das System war nicht dafür erstellt worden, um die richtige Größe in Shops der Modeketten zu finden, sondern passende Kleidung sofort bei der zugehörigen Modehandelsmarke Zozo zu kaufen. Doch das Konzept ging in den USA und Europa nicht auf, man zog sich wieder zurück. Auf den Kosten für die drei Millionen versandten Messanzüge blieb das Unternehmen großteils sitzen.

Breitet sich der Gebrauch hilfreicher Apps jedoch flächendeckend aus, könnte das das Geschäftsmodell des Modehandels nachhaltig verändern. Die Industrie steht unter Druck, ihre Belastung für die Umwelt zu verringern, eine Industrie, die der Maxime der „Fast Fashion“ unterworfen ist. Billige und schnell produziert Mode, günstig verkauft, kaum oder gar nicht getragen, um bald wieder weggeworfen zu werden. Dazu kommt der Müll, den der Versand kreuz und quer über Kontinente verursacht.

Großteil landet im Müll

Laut einem UNO-Bericht zu nachhaltiger Mode werden jedes Jahr 85 Prozent aller Textilien, das sind 21 Milliarden Tonnen, weggeworfen. Die Bekleidungsindustrie ist so für ein Zehntel der weltweiten Kohlenstoffemissionen verantwortlich. Der Wasserverbrauch ist enorm: Die Herstellung eines Baumwollshirts bedarf 2.700 Liter Wasser, so viel wie ein Mensch in zweieinhalb Jahren trinkt, so die UNO – ein weitläufig unterschätzter Einfluss auf die Umwelt.

Die Apps könnten in diesem Kreislauf „ein großer Schritt nach vorne“ sein, so Maria Malone von der Manchester Metropolitan University zur BBC. Die Onlinehändler produzieren so nur, was der Kunde tatsächlich bestellt hat, und nicht die dreifache Ausführung in verschiedenen Größen. „Wenn sie das Profil ihrer Kunden kennen, werden sie weniger produzieren, was letztlich zu einer nachhaltigeren Industrie führen wird.“