Schüler während des Unterrichts
ORF.at/Zita Klimek
Verpasster Lernstoff

Mit „Mut zur Lücke“ ins neue Schuljahr

Die turbulenten Monate im vergangenen Schuljahr haben Spuren hinterlassen: Das Homeschooling war nicht bei allen Schülerinnen und Schülern gleichermaßen erfolgreich, und Teile des Lehrplans blieben im Fernunterricht überhaupt auf der Strecke. Alles Versäumte nun im neuen Schuljahr nachzuholen ist laut Lehrenden aber weder nötig noch sinnvoll. Stattdessen brauche es „Mut zur Lücke“.

In der Mittelschule Ybbsitz in Niederösterreich ist während der Sommerferien einiges los: Schulleiter Leo Lugmayr bereitet mit seinen Lehrerinnen und Lehrern das neue Schuljahr vor. Oft ist dieser Tage von Plänen für die Wiederaufnahme eines „normalen“ Schulbetriebes die Rede. Auch Lugmayr hat einen Plan. Dieser handelt allerdings nicht von Abstand und Ampeln, Händewaschen und Lüften.

In Lugmayrs Plan geht es um Lernstoff. Lernstoff, der während der Homeschooling-Zeit nicht bei allen Schülerinnen und Schülern gleich gut gefestigt wurde. Lernstoff, der sich im Distance-Learning nicht mehr ausgegangen ist. Und Lernstoff, der im neuen Schuljahr darauf wartet, unterrichtet zu werden.

Alter Stoff vs. neuer Stoff

Dass Wissenslücken da sind, bezweifelt Lugmayr nicht. Deshalb plant er in den ersten sechs Wochen des neuen Schuljahres in jeder Klasse eine Stunde pro Woche und Fach zur Wiederholung ein. So bleibe auch noch genug Zeit für den neuen Stoff. Die Lehrenden kennen zudem ihre Schülerinnen und Schüler, so Lugmayr: „Sie wissen, wo Gefahr im Verzug sein könnte und können sofort reagieren.“

Liegen geblieben sei vom letzten Schuljahr aber ohnehin relativ wenig, denn man habe den Stoff bewusst auf das Wesentliche reduziert. Zur gezielten Festigung wurde in den sieben Wochen Präsenzunterricht, von Mitte Mai bis Schulschluss, die tägliche Turnstunde genutzt. Dass diese gestrichen wurde, habe zwar wehgetan, sagt Lugmayr, „aber so hatten wir jeden Tag eine Stunde mehr zur Wiederholung“.

Eines steht für den Schulleiter fest: Stoff vom Vorjahr, der im Herbst wiederholt wird, darf nicht mehr Prüfungsstoff sein. „Die Last würde sonst enorm werden, und was können die Kinder für die Situation?“

„Es liegt viel Arbeit vor uns“

Auch am BG und BRG Oberschützen im Burgenland war man zu Schulschluss nicht in allen Klassen und Fächern mit dem Lehrplan durch – „trotz aller Bemühungen“, wie Schulleiterin Ingrid Weltler-Müller sagt. Liegen gebliebene, schwierige Inhalte sollen nun im neuen Schuljahr aufgearbeitet werden. Und das müsse rasch geschehen, damit die neuen Inhalte angeknüpft werden können.

Um allen Schülerinnen und Schülern die Entwicklung im geeigneten Tempo zu ermöglichen, soll das Übungsausmaß pro Inhalt individualisiert werden: „Jeder muss das vermehrt üben, was ihm oder ihr noch fehlt oder noch nicht so gut sitzt.“

Die Basis muss passen

Das betrifft vor allem inhaltlich aufbauende Fächer wie etwa Fremdsprachen, so Weltler-Müller. So könne man in Englisch beispielsweise Lese- und Höraufgaben irgendwann nicht mehr verstehen, wenn man die darin vorkommenden Vokabeln nicht kennt. Dasselbe gelte für Mathematik: „Wer keine Terme auflösen kann, hat später viele Schwierigkeiten mit der Erfüllung einer Aufgabenstellung, wo diese Fähigkeit gebraucht wird.“

Es sei wichtig, keinen Schüler und keine Schülerin zurückzulassen. Was es jetzt brauche, sei „Zeit und Ruhe, um allen die Entwicklung auf das richtige Niveau zu ermöglichen“. Durch den vorgeschriebenen Schularbeitsrahmen gebe es aber nicht viel Spielraum. „Wir müssen in höheren Klassen viele Gegenstände unterbringen.“

„Mut zur Lücke“

Doch was ist wichtig und was nicht? „Man muss den Pädagogen zutrauen, dass sie wissen, welchen Stoff man zum Aufbauen braucht und welchen man vernachlässigen kann“, sagt Gerald Wiener, Schulleiter der NMS Rauris in Salzburg. Es brauche „Mut zur Lücke“.

Auch an der Schule im Pinzgau mit ihren 107 Schülerinnen und Schülern war es im vergangenen Schuljahr mit Lockdown und Distance-Learning nicht möglich, den gesamten Lehrplan durchzunehmen: „Natürlich ist nicht alles so gegangen wie im Präsenzunterricht. Das wäre utopisch.“

Und natürlich gebe es nach dem letzten Semester Wissenslücken bei den Schülerinnen und Schülern, so Wiener, der neben seiner Funktion als Schulleiter auch Deutsch unterrichtet – „aber die gibt es immer“. Auch im Präsenzunterricht kämen einige schneller mit, andere langsamer. Nur sei da besser ersichtlich, wer mehr Förderung braucht.

Lockdown verstärkte Bildungsungleichheit

Durch den Lockdown hat sich die in Österreich ohnehin hohe Bildungsungleichheit verstärkt. Denn der Erfolg von Distance-Learning und Homeschooling hängt davon ab, ob ein Kind ein eigenes Notebook und Zugang zum Internet hat. Ob die Eltern Zeit haben und die Unterrichtssprache gut genug verstehen, um ihren Kindern bei den Aufgaben unterstützen zu können. Und auch davon, ob Kinder auf engem Wohnraum einen ruhigen Rückzugsort zum Lernen haben.

Ein Vater hilft zu Hause an einem Esstisch seinem Sohn beim Lernen
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Die Bedingungen im Heimunterricht waren im vergangenen Semester entscheidend für den Schulerfolg

„Für Schülerinnen und Schüler der Unterstufe war es anfänglich vor allem eine technische Herausforderung, die ohne Hilfe der Eltern nicht zu schaffen gewesen wäre“, so Weltler-Müller vom Gymnasium Oberschützen. Die technischen Bedingungen seien bei ihren 670 Schülerinnen und Schülern sehr unterschiedlich gewesen. „Wir konnten aber vielen Familien mit Leihgeräten aushelfen.“

An der Mittelschule Rauris wurden ebenfalls Notebooks aus dem Informatikraum an Schülerinnen und Schüler verliehen – „Wochen bevor der Bund Geräte zur Verfügung gestellt hat“, so Wiener. Wurden Kinder im Lockdown nicht mehr erreicht, rief er bei den Eltern an, um zu fragen, „woran es hapert“.

Auch Schulleiter Lugmayr achtete schon während des Lockdowns darauf, dass kein Kind zurückbleibt: „Die Klassenvorstände haben jede Woche alle Eltern angerufen. Ein paar Sorgenkinder haben wir aufgefordert, in die Schule zu kommen, um mit den Lehrern am Stoff zu arbeiten. Sie kamen alle der Einladung nach.“

Hoffen auf „normales“ Schuljahr

Dieser Tage wird an der Mittelschule Ybbsitz im Mostviertel nicht nur der Lernstoff für den Herbst geplant. Lugmayr bereitet sich mit seinem Team auch „gezielt“ auf einen möglichen neuen Lockdown vor. In Oberschützen hofft Schulleiterin Weltler-Müller, dass es nicht wieder zu Fernunterricht kommt – falls doch sei man immerhin „besser darauf vorbereitet“.

Nicht nur Schulen, auch das Bildungsministerium nutzte laut ÖVP-Bildungsminister Heinz Faßmann die Sommerferien zur Vorbereitung auf das neue Schuljahr – von der Ausstattung mit Hygienematerial bis zur Schaffung des Portals „Digitale Schule“, das mit Schulbeginn zur Verfügung stehen und die Kommunikation zwischen Schülerinnen und Schülern, Lehrenden und Eltern verbessern soll.

Verbesserte Kommunikation wünscht sich auch Schulleiter Wiener im Salzburger Rauris für das kommende Schuljahr. Im März habe man aus den Medien erfahren, dass die Anwesenheit in der Schule ausgesetzt wird. „Wir haben überhaupt viele Dinge aus den Medien erfahren. Schulen können aber besser und schneller reagieren, wenn sie Verordnungen erhalten, bevor die Pressekonferenzen stattfinden.“