Zu der Aktion war es am Abend gekommen. Laut Angaben der Polizei durchbrachen dabei mehrere hundert Demonstrantinnen und Demonstranten, laut deutscher Presse „vornehmlich Rechtsextreme und Reichsbürger“, Absperrungen und stürmten auf die Stiege des Reichstagsgebäudes, des Sitzes des deutschen Parlaments.
Sicherheitskräfte drängten sie ab, sie setzten dabei auch Pfefferspray ein. Mehrere Personen wurden festgenommen. Einige waren bis vor die Tür des Gebäudes durchgedrungen, wo ihnen nur noch einzelne Polizeibeamte im Weg standen.
„Reichsflaggen vorm Parlament sind beschämend“
„Das Reichstagsgebäude ist die Wirkungsstätte unseres Parlaments und damit das symbolische Zentrum unserer freiheitlichen Demokratie“, sagte in einer Reaktion der deutsche Innenminister Horst Seehofer (CDU) der „Bild am Sonntag“. „Dass Chaoten und Extremisten es für ihre Zwecke missbrauchen, ist unerträglich.“
Der deutsche Außenminister Heiko Maas (SPD) schrieb auf Twitter: „Reichsflaggen vorm Parlament sind beschämend.“ Finanzminister Olaf Scholz schrieb: „Nazisymbole, Reichsbürger- & Kaiserreichflaggen haben vor dem Deutschen Bundestag rein gar nichts verloren.“
Der deutsche Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier sagte am Sonntag: „Reichsflaggen und rechtsextreme Pöbeleien vor dem Deutschen Bundestag sind ein unerträglicher Angriff auf das Herz unserer Demokratie. Das werden wir niemals hinnehmen.“
Befehl zu Auflösung
Berlins Innensenator Andreas Geisel (SPD) hatte die Zahl der Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Versammlungen etwa in Berlin-Mitte und an der Siegessäule mit 35.000 bis 38.000 angegeben. Insgesamt sollen an die 300 Personen festgenommen worden sein, unter ihnen der als Verschwörungstheoretiker bekannte Koch Attila Hildmann.
Die Kundgebungen, organisiert von der Initiative Querdenken 711, waren überhaupt erst in der Nacht auf Samstag in zweiter Instanz gerichtlich genehmigt worden, nachdem die Polizei sie im Vorfeld wegen Sicherheitsbedenken im Hinblick auf Abstand und Hygienevorschriften untersagt hatte.
Nachdem die erteilten Auflagen nicht eingehalten wurden, ordnete die Berliner Polizei die Auflösung der Versammlung an. „Mindestabstände werden von Ihnen flächendeckend trotz wiederholter Aufforderung nicht eingehalten“, hieß es in einer Durchsage. „Aus diesem Grund besteht keine andere Möglichkeit, als die Versammlung aufzulösen.“
„Weil man uns die Freiheit klaut“
Bereits bis Mittag hatten sich nach Polizeiangaben etwa 18.000 Menschen versammelt. Sie skandierten Parolen wie „Wir sind hier, wir sind laut, weil man uns die Freiheit klaut“ und „Wir sind das Volk“. Zunächst riefen die Veranstalter dazu auf, sich der Auflösung zu widersetzen, einige Stunden später hatten laut Geisel jedoch alle Teilnehmer die Straßen verlassen. „Tor auf“ wurde am Brandenburger Tor skandiert.
Am Nachmittag versammelten sich dann Zehntausende Menschen vor der Berliner Siegessäule für eine Kundgebung. Anders als bei der aufgelösten Demonstration gab es laut Geisel dort „offenbar ein Bemühen, die Abstandsregelung einzuhalten“. Bereits am frühen Abend verließen viele Teilnehmer die Kundgebung wieder.
Angemeldet als „Fest für Frieden und Freiheit“
Die Demonstrationen wurden von der Initiative Querdenken 711 unter dem Titel „Fest für Frieden und Freiheit“ angemeldet. Die Stuttgarter Initiative hatte auch die Versammlung am 1. August organisiert, bei der in Berlin Zehntausende Menschen gegen die Maßnahmen zur Eindämmung der Coronavirus-Pandemie demonstriert hatten – ohne Masken und Mindestabstand. Auch AfD-Politiker und andere rechte Gruppen hatten zur Teilnahme an der Demonstration am Samstag aufgerufen.
Hunderte Festnahmen bei Protesten in Berlin
Zehntausende Menschen haben am Samstag in Berlin gegen die Coronavirus-Politik der deutschen Bundesregierung demonstriert. Insgesamt kamen zwischen 35.000 und 38.000 Menschen zu den Versammlungen in Berlin-Mitte und an der Siegessäule, wie Berlins Innensenator Andreas Geisel (SPD) sagte. Im Internet kursierten – wie bereits nach der Großkundgebung am 1. August – Fantasiezahlen von Hunderttausenden bzw. über einer Million Menschen bei den Protesten.
Aufhebung aller Coronavirus-Gesetze gefordert
Bei der Kundgebung an der Siegessäule forderte Initiator Michael Ballweg von der Initiative Querdenken die Aufhebung aller zum Schutz vor der Pandemie erlassenen Gesetze sowie den sofortigen Rücktritt der deutschen Bundesregierung. Dafür bekam er großen Beifall. Zugleich dankte Ballweg aber auch der Berliner Polizei, „die uns ermöglichte, hier friedlich zu demonstrieren“. Von den Demonstranten beim Reichstag distanzierte sich Ballweg: „Die haben mit unserer Bewegung nichts zu tun.“ Querdenken sei eine friedliche und demokratische Bewegung, Gewalt habe da keinen Platz.
Der US-Rechtsanwalt, Umweltaktivist und Impfgegner Robert Francis Kennedy jun., Neffe des verstorbenen Ex-US-Präsidenten John F. Kennedy, wandte sich in seinem Redebeitrag gegen den Aufbau des 5G-Mobilfunknetzes, warnte vor einem Überwachungsstaat und attackierte in diesem Zusammenhang unter anderem Microsoft-Gründer Bill Gates. Unter Verweis auf den berühmten Berlin-Besuch des früheren US-Präsidenten Kennedy im Juni 1963 sagte er, sein Onkel sei damals nach Berlin gekommen, weil in der Stadt die Front gegen Totalitarismus verlaufen sei. „Heute ist Berlin wieder die Front gegen Totalitarismus.“
Festnahmen nach Ausschreitungen
Laut Geisel wurden über den Tag verteilt insgesamt etwa 300 Menschen festgenommen. Allein 200 davon wurden nach Angaben des Berliner Senators bei gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen Rechtsextremisten und Polizisten an der russischen Botschaft festgenommen, wo auch Hildmann in Gewahrsam genommen wurde. Hildmann war als veganer Koch bekanntgeworden. Im Zuge der Pandemie trat er wiederholt mit Verschwörungstheorien sowie verharmlosenden Äußerungen über den Nationalsozialismus und den Holocaust auf.
Der Berliner Behörden hatten zuvor bereits Kundgebungen Hildmanns verboten, weil gegen ihn wegen Volksverhetzung und Bedrohung ermittelt wird. Vor dem Botschaftsgebäude gab es nach Polizeiangaben Stein- und Flaschenwürfe auf Polizisten. Im Laufe des Tages waren auch Straßen vorübergehend blockiert und ein Baucontainer angezündet worden, wie die Polizei mitteilte. Sie war mit rund 3.000 Beamten und Beamtinnen im Einsatz. Ein Hubschrauber lieferte der Einsatzleitung Bilder aus der Luft. Es gab auch Gegenproteste, unter anderem aus der linken Szene.