Alles andere als überraschend kamen die Ereignisse vor fünf Jahren, die zum Schulterschluss zwischen Österreichs damaligem Bundeskanzler Werner Faymann (SPÖ) und der deutschen Kanzlerin Angela Merkel geführt hatten – der Grenzöffnung für Flüchtlinge, um damit eine humanitäre Katastrophe an Österreichs Grenze zu Ungarn zu verhindern.
Doch schon Anfang Juli häuften sich die Berichte über die stark gestiegenen Ankunftszahlen in Griechenland, Mazedonien und Serbien. Gleichzeitig verhängte das Aufnahmezentrum Traiskirchen einen Aufnahmestopp, Hunderte Geflüchtete mussten in Zelten bzw. unter freiem Himmel schlafen, viele wurden über ihre Rechte nicht aufgeklärt.
„Menschlicher Schandfleck“
Tausende Österreicherinnen und Österreicher engagierten sich bereits zu dieser Zeit und versuchten, Flüchtlinge in Traiskirchen, aber auch in anderen Orten Österreichs mit dem Nötigsten zu versorgen. International jedoch geriet gerade das Erstaufnahmezentrum in Niederösterreich ins Kreuzfeuer. Die Menschenrechtsorganisation Amnesty International ordnete eine Untersuchung an und ortete einen „menschlichen Schandfleck“ sowie „weitreichendes strukturelles Versagen“ der österreichischen Asylpolitik.
Ab Mitte August überschritten Tausende Flüchtlinge täglich die grüne Grenze zwischen Serbien und Ungarn. Spätestens seit das deutsche Bundesamt für Flüchtlinge und Migration (BAMF) am 25. August erklärt hatte, das Dublin-Verfahren, das eine Rückführung in das Ersteinreiseland innerhalb der EU vorsieht, für Menschen aus Syrien auszusetzen, wollten Tausende von ihnen nach Deutschland weiterreisen.
Nur zwei Tage später kam es zu einer Tragödie, die sich wohl bei vielen Österreicherinnen und Österreichern bis heute eingebrannt hat. Der Fund von 71 Leichen in einem Kühllaster auf der Ostautobahn (A4) am 27. August erschütterte das Land, Bilder aus Österreich gingen erneut um die Welt und rückten die lebensgefährliche Lage für Flüchtlinge und das skrupellose Vorgehen von Schleppern ins Zentrum der Debatte.
Flüchtlinge auf „Marsch der Hoffnung“
Die Lage auf dem Budapester Bahnhof Keleti, wo Tausende Menschen strandeten, spitzte sich spätestens am 31. August zu. Tausende drängten sich in Züge Richtung Wien. Überfordert zog Ungarn seine Polizei vom Bahnhof zurück, am 1. September stellt das Land seinen internationalen Zugsverkehr teilweise ein. Als zwei Tage später, am 3. September, überraschend doch Züge abfuhren, hatten sie statt Österreich und Deutschland ein ungarisches Flüchtlingslager im ungarischen Dorf Bicske als Ziel. Hunderte Flüchtlinge fühlten sich hinters Licht geführt, sie wollten nicht ins Flüchtlingslager und traten auf dem Bahnhof in Bicske in Hungerstreik.
Einen Tag später dann beschlossen Tausende in Budapest-Keleti gestrandete Menschen, zu Fuß über die Autobahn in Richtung Österreich zu gehen. Einige aus dem Zug in Bicske schlossen sich ihnen an. Ein Versuch der ungarischen Polizei, den Marsch kurz vor der Autobahnauffahrt zu stoppen, scheiterte. Einige Österreicherinnen und Österreicher fuhren sogar nach Ungarn, um den Menschen Wasser und Essen zu bringen. Von einem „Marsch der Hoffnung“ war die Rede, der Druck auf Faymann stieg.
Österreich öffnete Grenze
In den Abendstunden desselben Tages ging im Außenministerium ein offizielles Schreiben des ungarischen Botschafters ein. Er teilte mit, was längst bekannt war – dass sich Tausende zu Fuß auf den Weg nach Österreich gemacht hatten. Er bat um eine Einschätzung der Lage: Wie soll Ungarn reagieren? Das Außenministerium unter dem damaligen Minister Sebastian Kurz (ÖVP) leitete das Schreiben an Kanzler Faymann weiter. Dieser wiederum rief seine deutsche Amtskollegin Merkel an. Beide wollten eine humanitäre Katastrophe verhindern.
Während Faymann und Merkel noch hofften, die Grenzöffnung bis Samstagvormittag hinauszögern zu können, erhöhte Ungarn einmal mehr den Druck. Nach einer Sitzung des Krisenstabs der ungarischen Regierung trat Kanzleiminister Janos Lazar vor die Presse und erklärte, noch in der Nacht würden etwa hundert Busse die Flüchtlinge zur österreichischen Grenze bringen.
Ob die Menschen diese dann auch überqueren dürften, liege an Österreich. Angesichts dieses Ultimatums geriet Österreich zunehmend unter Druck. Am Rande des EU-Außenministertreffens in Luxemburg entwarfen am 4. September der damalige Außenminister Kurz sowie seine deutschen und ungarischen Amtskollegen die offizielle Erklärung, mit der die Grenzöffnung gegen Mitternacht bekanntgegeben wurde.
„Aufgrund der Notlage“
Faymann gab in Abstimmung mit Merkel und dem ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orban dann kurz nach Mitternacht am 5. September die Grenzöffnung offiziell bekannt. „Aufgrund der Notlage an der ungarischen Grenze stimmen Österreich und Deutschland in diesem Fall einer Weiterreise der Flüchtlinge in ihre Länder zu“, hieß es in einer Erklärung des Bundeskanzlers. Zugleich wurde der vorübergehende Charakter des Schrittes betont: „Im Übrigen erwarten wir, dass Ungarn seinen europäischen Verpflichtungen, einschließlich der Verpflichtungen aus dem Dubliner Abkommen nachkommt.“ Das sollte eine fromme Hoffnung bleiben.
Nur wenige Stunden später traf der erste Bus an der ungarisch-österreichischen Grenze ein, die letzten Meter über die Grenze gingen die Flüchtlinge wieder zu Fuß. Dort sowie im burgenländischen Grenzort Nickelsdorf erwarteten sie Freiwillige mit Decken und Essen sowie Busse und Sonderzüge der ÖBB, die sie nach Wien und dann weiter nach Deutschland brachten. Kurz nach 7.00 Uhr gab die Polizei bekannt, es hätten bereits rund 3.000 Menschen die Grenze überquert. Um 10.00 Uhr teilt das Innenministerium auf dem Kurznachrichtendienst Twitter mit, es würden insgesamt 10.000 Flüchtlinge erwartet.
Nur 90 von 15.000 stellten Asylantrag in Österreich
Faymann kündigte ein schrittweises Ende der Reisefreiheit für Flüchtlinge am Sonntag, dem 6. September 2015, an. „Wir müssen jetzt Schritt für Schritt weg von Notmaßnahmen hin zu einer rechtskonformen und menschenwürdigen Normalität“, so der damalige Kanzler. Einen konkreten Zeitpunkt nannte er nicht. Orban, der zunächst Druck auf Faymann und Merkel ausgeübt hatte, die Grenze zu öffnen, kritisierte anschließend im ORF-Interview genau diesen Schritt. Die beiden Länder müssten ihre Grenzen wieder schließen und „klar sagen“, dass keine weiteren Flüchtlinge mehr aufgenommen würden. Ansonsten würden weiterhin „mehrere Millionen“ Menschen nach Europa kommen, warnte Orban.
Das Innenministerium veröffentlichte Sonntagabend die offizielle Bilanz des Wochenendes: 15.000 Flüchtlinge überquerten seit Samstagfrüh die Grenze, lediglich 90 von ihnen stellten einen Asylantrag in Österreich. Die Zahlen veränderten sich in den kommenden Tagen und Wochen kaum, rund 6.000 Menschen erreichten täglich Österreich und reisten großteils nach Deutschland weiter.
Politische Veränderungen
Für mehrere Monate wurde der Notfall zur Regel. Die Opposition beklagte, Freiwillige würden die Arbeit und Organisation der Regierung übernehmen. Die Stimmung schlug zunehmend um: Immer mehr Staaten errichteten Zäune, führten Grenzkontrollen ein, Österreich beschloss eine Flüchtlingsobergrenze, die FPÖ befand sich angesichts der kippenden Stimmung im Land im Aufwind.
Auch innenpolitische Weichenstellungen zeichneten sich bereits während des Wochenendes im September 2015 ab. Der damalige ÖBB-Chef Christian Kern wurde wenige Monate später SPÖ-Kanzler, der burgenländische Landespolizeidirektor Hans Peter Doskozil SPÖ-Verteidigungsminister und später Landeshauptmann im Burgenland. Ex-Außenminister Kurz schaffte es nach Übernahme der ÖVP und Aufkündigung der SPÖ-ÖVP-Koalition im Mai 2017 im Herbst desselben Jahres auf den Kanzlerposten. Es folgte eine Regierungszusammenarbeit mit der FPÖ. Eine der zentralen Klammern war es, Migration möglichst zu stoppen.
„Internationale Gemeinschaft hat es nicht geschafft“
Mit dem Mitte März 2016 geschlossenen Flüchtlingsabkommen der EU mit der Türkei entspannte sich die Lage, und die Ankunftszahlen sanken signifikant. In der Türkei und in Griechenland allerdings verschärfte sich die Lage. „Letztendlich hat es die internationale Gemeinschaft nicht geschafft, solidarisch zu handeln und gemeinsam die Verantwortung für die Menschen zu übernehmen, die vor Krieg und Verfolgung fliehen", resümierte Amnesty-Generalsekretär Heinz Patzelt gegenüber ORF.at. „In den Lagern auf den griechischen Inseln ist die Situation für Geflüchtete absolut unerträglich und inakzeptabel. Tausende Menschen sitzen in den völlig überfüllten Lagern fest, darunter auch alte Menschen, Menschen mit chronischen Krankheiten und Behinderungen, Kinder und Schwangere.“
Der EU wird seit der Krise, die durch die Flüchtlingsbewegung entstanden ist, vorgeworfen, Griechenland als Puffer zu nutzen. Die griechischen Behörden sehen sich trotz finanzieller Unterstützung der EU überfordert. Einzelne EU-Länder zeigten sich bereit, ein paar der Tausenden aus den Lagern in Griechenland aufzunehmen, nicht so Österreich. Patzelt dazu: „Es ist nicht nachvollziehbar, wieso die EU-Mitgliedsländer dieser schweren Menschenrechtsverletzung mitten in Europa nicht endlich ein Ende setzen und die Menschen unverzüglich aus den Lagern aufnehmen. Auch Österreich hat hier Verantwortung zu übernehmen.“