Schwer bewaffnete Sicherheitskräfte vor dem Gerichtsgebäude
APA/AFP/Thomas Coex
„Charlie Hebdo“-Anschlag

Historischer Prozess in Paris gestartet

Im Jänner 2015 haben die Attentate auf die Redaktion des Satiremagazins „Charlie Hebdo“ und einen koscheren Supermarkt weit über die Grenzen Frankreichs hinaus für Entsetzen gesorgt. 17 Menschen kamen bei der mehrtägigen islamistischen Anschlagserie ums Leben. Mehr als fünfeinhalb Jahre später begann am Mittwoch in Paris der Prozess gegen mutmaßliche Komplizen und Hintermänner der Attentate.

Der für Terrorismusbekämpfung zuständige Staatsanwalt Jean-Francois Ricard sagte, der Prozess habe zwei Ziele: „der Wahrheit nahe zu kommen“ und die Überlebenden zu Wort kommen zu lassen. Der Redaktionsleiter von „Charlie Hebdo“, Laurent Sourisseau, schrieb in einer Sonderausgabe der Zeitung: „Ein Prozess reicht nicht aus.“ Er äußerte die Hoffnung, dass „in zehn, 20 Jahren freiere Geister zum Vorschein kommen als die unserer Zeit“.

Insgesamt 14 Personen sind vor dem Pariser Schwurgericht angeklagt. Elf Männer wurden am Mittwoch im neuen Justizpalast im Nordwesten der Hauptstadt vorgeführt. Zehn von ihnen saßen im Gerichtssaal in Glasboxen, die von Polizisten bewacht wurden. Die übrigen drei Angeklagten – darunter eine Frau – sind flüchtig oder womöglich bereits tot.

Der Chefredaktuer von Charlie Hebdo, Laurent Sourisseau
AP/Francois Mori
Sourisseau, Karikaturist und Redakteursleiter von „Charlie Hebdo“, nahm am Prozessauftakt teil

Mutmaßliche Unterstützung der Attentäter

Den Angeklagten wird vorgeworfen, bei der Vorbereitung der Anschläge geholfen zu haben. Sie sollen die Brüder Cherif und Said Kouachi unterstützt haben, die am 7. Jänner 2015 die Redaktionsräume von „Charlie Hebdo“ stürmten und zwölf Menschen erschossen, darunter einige der bekanntesten Zeichner Frankreichs. Die Kouachi-Brüder selbst wurden nach einer zweitägigen Verfolgungsjagd durch Elitepolizisten aufgespürt und getötet.

Zeichnung der Angeklagen im Gerichtssaal
APA/AFP/Benoit Peyrucq
Jeder der Angeklagten wurde von einem maskierten Polizisten bewacht

Zudem sollen die Verdächtigen den Islamisten Amedy Coulibaly unterstützt haben. Der mit den Kouachi-Brüdern befreundete 23-Jährige tötete am 8. und 9. Jänner 2015 eine Polizistin in einem Pariser Vorort und vier weitere Menschen bei der Geiselnahme in dem koscheren Supermarkt „Hyper Cacher“. Coulibaly wurde erschossen, als die Polizei das Geschäft stürmte.

Schwer bewaffnete Sicherheitskräfte am Eingang
Reuters/Christian Hartmann
Der Prozess startete unter strengen Sicherheitsvorkehrungen

Die Anschlagserie gilt auch als Auftakt zu einer Welle islamistischer Gewalt, die Frankreich in den folgenden Monaten erschüttern sollte. Bei islamistisch motivierten Terrorakten kamen im Land mehr als 250 Menschen ums Leben. Zu den Anschlägen auf die Konzerthalle Bataclan und Restaurants im Pariser Osten vom Herbst 2015 – dabei starben 130 Menschen – wird es einen weiteren Prozess geben.

Über 200 Menschen schlossen sich Strafverfahren an

Dem Strafverfahren zu den Anschlägen im Jänner 2015 schlossen sich rund 200 Menschen als Zivilkläger an. Darunter sind Überlebende und Angehörige der insgesamt 17 Anschlagsopfer. „Dieser Prozess ist ein wichtiger Schritt für sie“, sagen die Anwältinnen der Opfer von „Charlie Hebdo“, Marie-Laure Barre und Nathalie Senyk. „Sie erwarten, dass ihnen Gerechtigkeit widerfährt.“ Die ersten Wochen des Verfahrens sind der Anhörung der Zivilkläger gewidmet. Erst danach sollen die Angeklagten aussagen.

Wegen seiner historischen Bedeutung wird der gesamte Prozess gefilmt. Die Pariser Anti-Terror-Staatsanwaltschaft hat die Verhandlungen bis zum 10. November angesetzt. Ursprünglich sollten sie bereits im Mai beginnen, doch die Coronavirus-Krise und die Ausgangsbeschränkungen kamen dazwischen.

Macron verteidigt Recht auf Blasphemie

Noch vor Prozessbeginn verteidigte der französische Präsident Emmanuel Macron das Recht auf Blasphemie in seinem Land. Das Recht auf blasphemische Äußerungen und Darstellungen sei in Frankreich durch die Gewissensfreiheit abgedeckt, sagte Macron am Dienstag während eines Besuchs in der libanesischen Hauptstadt Beirut.

Seine Rolle als Präsident sei es, „diese Freiheiten zu schützen“, betonte Macron bei einer Pressekonferenz. Es sei nicht die Aufgabe des französischen Präsidenten, die redaktionellen Entscheidungen eines Journalisten oder einer Redaktion zu beurteilen.

Mohammed-Karikaturen erneut veröffentlicht

Kurz zuvor hatte „Charlie Hebdo“ mitgeteilt, es werde in seinem Sonderheft zu Prozessbeginn erneut jene Mohammed-Karikaturen veröffentlichen, wegen derer das Blatt zur Zielscheibe von Islamisten wurde. Die ursprünglich in der dänischen „Jyllands-Posten“ erschienenen Zeichnungen hatte „Charlie Hebdo“ bereits 2006 veröffentlicht.

Charlie Hebdo Ausgabe vom 1. September 2020
Reuters/Charles Platiau
Zum Prozessstart brachte „Charlie Hebdo“ eine Sonderausgabe heraus

Zudem sollen der Zeichner Francois Boucq und der Autor Yannick Haenel den Prozess für das Magazin mitverfolgen und bildlich festhalten. Die beiden regelmäßigen Mitarbeiter hätten den Anschlag nicht miterlebt und könnten deshalb Dinge zeigen, „die wir nicht unbedingt sehen“, so Chefredakteur Gerard Biard.