Deutsche Kanzlerin Angela Merkel
AP/Markus Schreiber
„Versuchter Giftmord“ an Nawalny

Merkel fordert Putin heraus

Die mutmaßliche Vergiftung des Kreml-Kritikers Alexej Nawalny ist zu einer direkten Konfrontation zwischen Deutschland und Russland geworden. Die deutsche Kanzlerin Angela Merkel sprach ungewohnt offen von einem „versuchten Giftmord“, mit dem Nawalny „zum Schweigen gebracht werden sollte“. Es würden sich jetzt „sehr schwerwiegende Fragen“ stellen, „die nur die russische Regierung beantworten kann und beantworten muss“. Merkel erhielt vom Westen Unterstützung. Moskau reagierte mit Kritik.

Es drohen nun weitere Verwerfungen in den ohnehin schwer beschädigten Beziehungen Deutschlands und des Westens insgesamt mit Russland. Völlig offen ist, wie weit Berlin, die EU und die NATO bereit sind, in eine längere und offene Konfrontation mit Russland zu gehen, dessen Kooperation gleichzeitig an anderen Fronten wie etwa in Syrien notwendig und wünschenswert erscheint.

Wie ernst es Merkel ist, wurde aus ihren Aussagen Mittwochnachmittag klar – kurz nachdem die deutsche Regierung bekanntgegeben hatte, dass laut einer Analyse eines Bundeswehrlabors Nawalny zweifelsfrei mit einem Nervenkampfgift der Gruppe Nowitschok vergiftet worden sei.

„Die Welt wird auf Antworten warten“

„Wir erwarten, dass die russische Regierung sich zu diesem Vorgang erklärt“, so Merkel am Mittwoch in Berlin. „Es stellen sich jetzt sehr schwerwiegende Fragen, die nur die russische Regierung beantworten kann und beantworten muss.“ Das Schicksal Nawalnys habe weltweite Aufmerksamkeit erlangt. „Die Welt wird auf Antworten warten.“

„Alexej Nawalny wurde Opfer eines Angriffs mit einem chemischen Nervenkampfstoff der Nowitschok-Gruppe. Dieses Gift lässt sich zweifelsfrei in den Proben nachweisen. Damit ist sicher: Alexej Nawalny ist Opfer eines Verbrechens. Er sollte zum Schweigen gebracht werden“, so Merkel. Das verurteile sie auch im Namen der ganzen Regierung auf das Allerschärfste. Nawalny wird seit 22. August in der Berliner Charite behandelt.

Ein Nervengift der Nowitschok-Gruppe wurde auch bei der Vergiftung des ehemaligen russischen Doppelspions Sergej Skripal und seiner Tochter Julia im britischen Salisbury 2018 verwendet. Die beiden überlebten nur knapp. Als Reaktion hatten zahlreiche westliche Staaten russische Diplomaten ausgewiesen. Auch diesmal strebt die deutsche Regierung ein abgestimmtes Vorgehen der westlichen Verbündeten an.

„Richtet sich gegen Grundwerte“

Gemeinsam mit den Partnern in der NATO und in der EU werde man nun beraten und „im Lichte der russischen Einlassungen über eine angemessene, gemeinsame Reaktion entscheiden“, sagte die Kanzlerin. „Das Verbrechen gegen Alexej Nawalny richtet sich gegen die Grundwerte und Grundrechte, für die wir eintreten.“

EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen sagte, die Vergiftung sei ein „verabscheuungswürdiger und feiger Akt – wieder einmal“. Für den EU-Außenbeauftragten Josep Borrell ist der Einsatz chemischer Waffen ein Verstoß gegen internationales Recht. Die USA reagierten ebenfalls „zutiefst beunruhigt“. Man werde nun mit den Verbündeten zusammenarbeiten, so der Sprecher des Nationalen Sicherheitsrats, John Ullyot. Auch andere Staaten, allen voran Frankreich und Großbritannien, zeigten sich entrüstet und forderten von Moskau rasche Aufklärung. Die NATO kündigte Beratungen an.

Den Nachweis, mit welchem Gift Nawalny vergiftet wurde, führte laut deutschen Angaben ein Speziallabor der deutschen Bundeswehr auf Veranlassung der Charite. Regierungssprecher Steffen Seibert sprach von einem „bestürzenden Vorgang“.

Deutsche Sanitäter mit einer Spezialtrage für die Behandlung des Putin-Kritikers Nawalny
APA/AFP/Odd Andersen
So war Nawalny am 22. August in die Charite eingeliefert worden

Botschafter einbestellt

Das Außenministerium bestellte den Botschafter Russlands ein. „Ihm wurde dabei nochmals unmissverständlich die Aufforderung der Bundesregierung übermittelt, die Hintergründe dieser nun nachweislichen Vergiftung von Alexej Nawalny vollumfänglich und mit voller Transparenz aufzuklären“, so der deutsche Außenminister Heiko Maas.

Die russische Botschaft warnte Berlin ihrerseits vor einer „Politisierung“ des Falls Nawalny. „Wir rufen unsere Partner auf, jedwede Politisierung dieses Vorfalls zu vermeiden und sich ausschließlich auf glaubwürdige Fakten zu stützen, die hoffentlich schnellstmöglich geliefert werden“, hieß es in einer am Mittwochabend veröffentlichten Erklärung.

Nawalny laut Ärzten vergiftet

Laut Ärzten der Berliner Charite ist der russische Kreml-Kritiker Alexej Nawalny „zweifelsfrei vergiftet“ worden. Das hat die deutsche Regierung am Mittwoch bekanntgegeben. Deutschland hat Moskau aufgefordert, sich dazu zu äußern.

Moskau kritisierte Berliner Vorgehen scharf

Aus Russland selbst wurde medial scharfe Kritik am Vorgehen Deutschlands geübt. „Laute öffentliche Erklärungen werden bevorzugt“, teilte das Außenministerium in Moskau russischen Nachrichtenagenturen zufolge mit. Es gebe keine Beweise, berichtete die Nachrichtenagentur RIA unter Berufung auf das Außenministerium. Es warf der Regierung in Berlin vor, nicht zu kooperieren.

Der Sprecher des russischen Präsidenten Wladimir Putin, Dmitri Peskow, betonte, Moskau könne derzeit auf die Erklärung aus Berlin nicht „qualifiziert reagieren“. Russland sei bereit zu einer Zusammenarbeit mit den deutschen Behörden, bekräftigte er.

Die Generalstaatsanwaltschaft in Moskau habe bereits eine offizielle Anfrage geschickt, diese sei jedoch nicht beantwortet worden. Die Ärzte in Moskau und Omsk hätten ebenso einen Austausch von Daten angeboten. Auch darauf gab es Peskows Darstellung nach keine Reaktion.

Für CDU/CSU steckt Regierung dahinter

Der Direktor von Nawalnys Antikorruptionsstiftung FBK machte den russischen Staat für die Vergiftung verantwortlich. „Nur der Staat kann Nowitschok einsetzen“, schrieb Iwan Schadnow am Mittwoch auf Twitter. Das stünde „ohne jeden Zweifel“ fest. Dieser Einschätzung schlossen sich auch CDU und CSU im Bundestag an. Der Nervenkampfstoff, mit dem Nawalny vergiftet wurde, sei schwer zu beschaffen und könne nur aus hochspezialisierten Laboren stammen, so der außenpolitische Sprecher der CDU/CSU-Fraktion, Jürgen Hardt. „Für die CDU/CSU-Bundestagsfraktion liegt daher auf der Hand, dass dieser Giftstoff nur mit Hilfe der russischen Regierung beschafft und hergestellt werden konnte.“

Seit 22. August in Berlin in Behandlung

Nawalny wird seit dem 22. August in der Berliner Charite behandelt. Nach ersten Erkenntnissen der Charite wurde dem Kritiker von Russlands Präsident Putin ein Gift verabreicht. Die Hintergründe sind aber nach wie vor unklar. Russische Sicherheitsbehörden haben dagegen bisher erklärt, sie sähen keinen Anlass für Ermittlungen. Anzeichen für eine Straftat gebe es nicht. Russische Ärzte hatten gesagt, dass sie keine Hinweise auf eine Vergiftung gefunden hätten.

Charite: Symptome gehen zurück

Die Charite äußerte sich zuletzt am Freitag zu dem Fall. In einer Erklärung teilte das Universitätsklinikum mit, dass sich die Vergiftungssymptome bei Nawalny zurückbildeten. Sein Zustand sei stabil, er befinde sich weiter auf einer Intensivstation im künstlichen Koma und werde maschinell beatmet. Akute Lebensgefahr bestehe nicht, Langzeitfolgen der „schweren Vergiftung des Patienten“ seien aber nicht absehbar.

Auf Flug zusammengebrochen

Der rechtspopulistische Nawalny war am 20. August auf einem Inlandsflug in Russland zusammengebrochen. Zunächst wurde er im sibirischen Omsk behandelt, bevor er nach Deutschland geflogen wurde. Russland wird für mehrere Giftattentate auf Kreml-Kritiker verantwortlich gemacht.

Immer wieder Razzien und Verhaftungen

Nawalny zeigt immer wieder Fälle von grassierender Korruption auf und organisierte in den vergangenen Jahren in Russland auch immer wieder landesweite Proteste. Seinem Aufruf folgten dabei Zehntausende – vor allem junge – Menschen. Er werde von den Behörden an seiner Arbeit gehindert, betonte Nawalny regelmäßig.

Immer wieder gab es Razzien in seinen Büros, er wurde auch oft festgenommen und zu Haftstrafen verurteilt. 2017 wurde der Oppositionelle bei einer Farbattacke schwer am Auge verletzt. Er wurde in ein Krankenhaus gebracht und später in Spanien operiert. Vor einem Jahr musste er während seiner Haftstrafe in einem Krankenhaus angeblich wegen eines Allergieschocks behandelt werden. Nawalny betonte damals, dass er vergiftet worden sein könnte.

Fälle mutmaßlicher Giftanschläge

In Russland waren mutmaßliche Vergiftungen im politischen Milieu in der Vergangenheit immer wieder ein Thema. Auch der Aktivist Pjotr Wersilow, Mitglied der russischen Polit-Punk-Gruppe Pussy Riot, verdächtigte den russischen Geheimdienst, ihn 2018 in Moskau vergiftet zu haben. Er wurde in Berlin behandelt. Pussy Riot sind mit spektakulären Aktionen gegen Justizwillkür und Korruption weltweit bekannt geworden.

Der frühere russische Agent und Kreml-Kritiker Alexander Litwinenko starb 2006 im Exil in London an einer Vergiftung mit hochgradig radioaktivem Polonium. Zuvor hatte er mit den russischen Geschäftsmännern und Ex-KGB-Agenten Dmitri Kowtun und Andrej Lugowoi Tee getrunken. London gibt Moskau die Schuld, das jegliche Verantwortung bestreitet.