Grafenegg

Beethoven und die Konzertrevolution

Dass das Schaffen Ludwig van Beethovens einen Wendepunkt in der klassischen Musik bedeutet, hat man in diesem Jubiläumsjahr oft gehört. Vielleicht muss man es auch direkt erleben, um die Kulturrevolution Beethovens zu spüren. Wenn nun Rudolf Buchbinder im Finale seines Grafenegg Festivals Beethovens Klavierkonzerte in B-Dur und c-Moll gemeinsam mit den Wiener Philharmonikern in den Wolkenturm bringt, dann darf man auch live hier die Urgewalt Beethovens miterleben.

Es ist ein Kultursommer der Extreme. Zuerst musste man durch das Coronavirus die Steppe befürchten. Seit den erfolgreichen Durchführungen der Salzburger Festspiele, der styriarte und nun auch des Festivals von Grafenegg hat der Sommer ein unerwartet dichtes, ja fast überdichtes Kulturprogramm gebracht.

Eines der Orchester, das die Dichte gerade am eigenen Leib zu spüren bekommt, sind die Wiener Philharmoniker: Gerade frisch aus Salzburg retour, wo man bei der „Cosi fan tutte“ und der „Elektra“ sowie einem dichten Konzertprogramm eine Demonstration der gesamten Bandbreite zwischen Wiener Klassik und der Moderne demonstrierte. Und nun präsentiert man ein Wochenende im Zeichen Beethovens, einmal mit der „Leonore“-Ouvertüre und der „Eroica“ unter Franz Welser-Möst und zwei Schlüsselkonzerten Beethovens am Sonntag mit Buchbinder im Stile Beethovens am Klavier und zugleich im Lead für das Orchester.

Festival Grafenegg

Am Samstag wird in Grafenegg Franz Welser-Möst die Wiener Philharmoniker dirigieren – und am Sonntag findet dann das Abschlusskonzert des Festivals statt, bei dem der Pianist und Festival-Leiter Rudolf Buchbinder zusammen mit dem Orchester auf der Bühne stehen wird.

Philharmoniker im Dauereinsatz

Am Montag und Dienstag geht es dann Schlag auf Schlag weiter für die Philharmoniker mit der Premiere der „Madame Butterfly“ unter dem neuen Opernmusikchef Philippe Jordan an der Staatsoper und der Wiederaufnahme der „Elektra“ von Harry Kupfer, erneut wie in Salzburg bei der bejubelten Felsenreitschul-Premiere unter Welser-Möst. Hat man im Feuilleton anlässlich des Salzburger Konzertprogramms sehr über die Klangstrukturen in Zeiten des Coronavirus nachgedacht, frei nach dem Motto: Wiener Sitzverhältnis nahe, Berliner Orchesterzusammenspiel auf Abstand (geschuldet der Ein- bzw. Eineinhalbmeterregel), so nimmt man es seitens der Philharmoniker gelassen. Das für seinen Wohlklang gerühmte Ensemble beteiligt sich nicht an den Folgespekulationen zu den Auftrittsformen, egal ob unter CoV-Bedingungen, egal ob indoor oder outdoor.

Live in ORF III

ORF III überträgt das Finale von Grafenegg am Sonntag ab 20.15 Uhr live. Live zu erleben auch hier in ORF.at.

„Die Wiener Philharmoniker nehmen ihren spezifischen Klang überallhin mit, wo sie spielen, egal ob im Saal, im Festspielhaus, in der Oper oder im Wolkenturm“, sagte Philharmoniker-Vorstand Daniel Froschauer gegenüber ORF.at und ergänzte: „Grafenegg ist für das Orchester fast wie ein Nachhausekommen, waren wir doch von Anfang an dabei.“

„Die Voraussetzungen und das Konzept zum Zusammenspiel sind in Grafenegg dieselben wie im Juni im Musikverein, im Sommer in Salzburg, jetzt in der Oper und eben auch jetzt in Grafenegg“, meinte Froschauer, der auch auf die Abstands- und Hygieneregeln wie auf regelmäßige Tests verweist. Klangliche Fragen sieht man dadurch nicht berührt.

Buchbinders Beethoven-Tradition

Wenn man nun erneut mit Buchbinder an Schlüsselwerke im Konzertschaffen Beethovens zurückgreift, so tut man das ganz im Sinne des Erfinders. Bis zum Jahr 1809 und der fortschreitenden Ertaubung saß Beethoven bei seinen Klavierkonzerten selbst am Flügel. Er war als komponierender Solist und herausragender Pianist seiner Zeit so etwas, so der Musikwissenschaftler Andreas Krause, wie der „Festordner in eigener Sache“, der die „Kartografie“ seiner Werke vorgebe beim Konzertieren, dann aber auch noch in freier Improvisation nachträgliche Änderungen habe einfügen können.

Buchbinder sieht, wie er gegenüber ORF.at sagt, den Zugang, das Orchester vom Klavier aus zu leiten, „als eine Art vergrößerte Kammermusik“: „Jede Musikerin und jeder Musiker trägt eine viel größere Verantwortung, da ich ja nicht die ganze Zeit dirigiere. Ich möchte diese Form des Musizierens nicht mehr missen, und gerade mit den Wiener Philharmonikern macht es besonders große Freude.“

Rudolf Buchbinder bei den Proben für den Beethoven im Wiener Musikvereinsaal
Benedikt Dinkhauser
Buchbinder mit den Wiener Philharmonikern im Rahmen der Proben für die Beethoven-Konzerte im Wiener Musikvereinssaal

Buchbinder, der sich ja zu seinem 60. Geburtstag alle fünf Klavierkonzerte Beethovens in einer Aufführungsform schenkte, die neben ihm als Solisten keinen Dirigenten mehr vorsah, agiert dergestalt im Sinne Beethovens, fordert Beethoven ja gerade in seinen Konzerten nicht die Virtuosität des Solisten, sondern sein tatsächliches Improvisationstalent.

Wenn nun, wie die Musikwissenschaft gerne betont, dem begleitenden Orchester in einem Konzert mit Soloinstrument so etwas wie die Rolle des Chors in der griechischen Tragödie zukommt, in dem es wie eine Echokammer oder als Instanz der Spiegelung bei den Motiven agiert, dann nutzt Beethoven diese Situation zur Steigerung des Potenzials, das in all seinen Themen schlummert. Beethoven nutzt gerade das Konzert zum Ausstellen seiner Ideen in Reinform – wie die Steigerung der Motivik bis hin zum Explosiven.

Eine Schlüsselstelle in der Musikgeschichte

Raum für die Improvisation für den Solisten ist in der Zeit der Wiener Klassik die Kadenz, in der der Solist am Ende des Kopfsatzes die Möglichkeit erhält, auf seine Weise das Hauptthema gestaltend zu variieren. Ein zurück leitender Triller (auf den Leitton über dem Dominantseptakkord) war für den Dirigenten das Zeichen, nun wieder das Orchester mit der Schlusswendung einsetzen zu lassen.

In seinem dritten Klavierkonzert in c-Moll aus dem Jahr 1803 begann Beethoven die Gattungsgesetze, auch die Gegenüberstellung von Solisten und Orchester in der Kadenz auszuhebeln. Die Öffnung des Kopfsatzes hin zum langsamen Satz gilt als Schlüsselstelle hin zu einem „neuen Weg“ und hin zum romantischen Gestus. Nach Beethoven wird freilich der Weg für die Improvisation enger, vieles durchkomponierter. In welche Richtung sich alles drehen würde, das ist über dieses Werk erlebbar. Oder einfacher gesagt: Wer das Largo aus dem Dritten Klavierkonzert miterlebt, weiß auch, warum man über den Wolkenturm kurzzeitig dem Himmel näher kommen darf. Und warum Beethoven ab diesem Zeitpunkt zu hören am Ende immer auch bedeutet, gleich die Musikgeschichte der kommenden gut 80 Jahre vorweggenommen zu bekommen.