Ein Vater bei seinem kranken Kind
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Kinder in der Krise

Viele offene Fragen zur Betreuung

Der Schulstart verläuft heuer anders als jemals zuvor. Kinder, Eltern und Lehrpersonal müssen sich auf viele Unsicherheiten einstellen. Eine davon ist die Kinderbetreuung im Verdachts- und Krankheitsfall. Dazu bewirbt die Regierung eine Verlängerung der Sonderbetreuungszeit, jüngst im Elternbrief. Dabei sind Eltern arbeitsrechtlich gar nicht auf diese Sonderregelung angewiesen.

In dem Elternbrief, der Anfang September von Arbeitsministerin Christine Aschbacher (ÖVP) und ÖVP-Bildungsminister Heinz Faßmann verschickt wurde, sollen Kinder bei Verdacht auf einen Infekt – welchen auch immer – zu Hause bleiben. „Ab einer Körpertemperatur von mehr als 37,5 Grad ist definitiv von einem Schulbesuch abzusehen“, heißt es im Detail. Und weiter: „Dabei haben Eltern und Erziehungsberechtigte neuerlich die Möglichkeit, für Ihre (sic) Kinder eine Sonderbetreuungszeit im Ausmaß von bis zu drei Wochen unter Fortzahlung des Entgelts in Anspruch zu nehmen, auch wenn diese bereits im 1. Halbjahr beansprucht wurde.“

Die Sonderbetreuungszeit in Zeiten der Coronavirus-Krise basiert auf dem Arbeitsvertragsrechts-Anpassungsgesetz (AVRAG). Laut AVRAG kann sie nicht nur dann in Anspruch genommen werden, wenn eine Bildungseinrichtung aufgrund behördlicher Maßnahmen teilweise oder komplett geschlossen ist, sondern seit Juli auch für die „notwendige Betreuung“ eines Kindes unter 14 Jahren. Damit kann diese auch im Fall der Erkrankung des Kindes in Anspruch genommen werden. Das Gesetz greift aber nur, wenn der Arbeitgeber dem Gesuch des Arbeitnehmers stattgibt.

Elternbrief von Bildungsminister Faßmann und Familienministerin Aschbacher
ORF.at
Der Elternbrief sorgte teils für Verwirrung

Stimmt der Arbeitgeber zu, bekommt er ein Drittel der Lohnkosten ersetzt. Dazu kann der Arbeitgeber bei der Buchhaltungsagentur des Bundes derzeit noch für den Zeitraum bis 30. September ansuchen. Eine Verlängerung der Sonderbetreuungszeit bis Februar 2021, die im Rahmen der Coronavirus-Pandemie vereinbart wurde, stellten die Behörden in Aussicht. Vom Arbeitsministerium heißt es gegenüber ORF.at, ein entsprechender Gesetzesentwurf werde gerade finalisiert und bedürfe dann noch eines Beschlusses im Nationalrat.

„Erziehungsberechtigte haben Obsorgepflicht“

Kritikerinnen und Kritiker stellen jedoch die Notwendigkeit der Sonderbetreuungszeit aus Sicht des Arbeitnehmers bzw. der Arbeitnehmerin grundlegend infrage. Denn es gebe bereits mehrere Rechtsgrundlagen, nach denen man sein krankes Kind – ob in Zeiten der Pandemie oder nicht – ohne Zustimmung des Arbeitgebers selbst betreuen könne und, ohne auf sein Gehalt verzichten zu müssen, der Arbeit fern bleiben dürfe, erläutert Arbeitsrechtler Martin Gruber-Risak von der Universität Wien gegenüber ORF.at.

Erstens ist eine Pflegefreistellung im Urlaubsgesetz verankert. Dabei hat ein Arbeitnehmer bzw. eine Arbeitnehmerin Anspruch auf Fortzahlung des Entgelts in der Höhe der wöchentlichen Arbeitszeit einmal pro Jahr. Das kann bei Notwendigkeit für ein unter zwölfjähriges Kind um eine weitere Woche erweitert werden. Wenn ein Betrieb überdies freiwillig die Pflegefreistellung noch besser als dieses Mindestmaß regelt, ist das natürlich möglich.

Und wenn diese zwei Wochen aufgebraucht sind, aber weiter dringender Bedarf besteht, sein Kind im Krankheitsfall persönlich betreuen zu können? „Erziehungsberechtigte haben eine grundsätzliche Obsorgepflicht für ihre Kinder. Sie sind aufsichtsverpflichtet“, so Gruber-Risak. Dazu gibt es auch noch eine zweite Gesetzesgrundlage für eine solche Dienstverhinderung: Das Angestelltengesetz legt fest, dass ein Angestellter seinen Anspruch auf Entgelt behält, „wenn er durch andere wichtige, seine Person betreffende Gründe ohne sein Verschulden während einer verhältnismäßig kurzen Zeit an der Leistung seiner Dienste verhindert wird“, heißt es im Angestelltengesetz.

Rechte für alle Beschäftigten

Überdies gibt es einen Paragrafen gleichen Inhalts auch im Allgemeinen Bürgerlichen Gesetzbuch (ABGB). So sei es gesichert, dass nicht nur für Angestellte, sondern auch für Arbeiterinnen und Arbeiter dieselben Rechte gelten, erklärt Gruber-Risak. Freilich darf das zur Kinderbetreuung auch im Notfall nicht ausgenutzt werden: „Nur wenn sich niemand anderer kümmern kann, dann kann man sich auf diese Gesetzestexte berufen für eine notwendige Betreuung.“

„Niemand anderer“ bedeutet gleichwohl, niemanden zu gefährden – also gerade in Zeiten der Pandemie etwa die Großeltern als Risikogruppe zu schützen. Als Zeitraum deutet der Arbeitsrechtler einen Richtwert verglichen mit der Pflegefreistellung im Urlaubsrecht an: „Pro Anlassfall für zumindest eine Woche, das kann man mehrmals beanspruchen.“ Er hebt hervor: „Der Anspruch ist nicht kontingentiert.“

Kritikerinnen und Kritiker befinden daher die Angaben des Bildungs- und Arbeitsministeriums zumindest im Elternbrief von 2. September für irreführend. Noch ein weiterer Satz in der Richtlinie der Arbeitsministerin zur Sommer-Sonderbetreuungszeit mit Stand August 2020 trägt zur Verwirrung bei. Darin heißt es: „Darüber hinaus darf kein anderer Anspruch auf Dienstfreistellung des Arbeitnehmers zur Betreuung seines Kindes oder des Menschen mit Behinderung bestehen (wie etwa nach den einschlägigen Regelungen nach dem Angestelltengesetz, Allgemeinen Bürgerlichen Gesetzbuch oder dem Urlaubsgesetz).“

„Müssen nicht dauernd Gesetze erfinden“

„Das passt vorne und hinten nicht zusammen“, kritisiert Gruber-Risak und ortet Chaos. Es werde einerseits zur Betreuung eines kranken Kindes die dreiwöchige Sonderbetreuungszeit angeboten (die mit dem Arbeitgeber vereinbart werden muss, Anm.). Andererseits werde dann aber gesagt, die Sonderbetreuungszeit könne nur in Anspruch genommen werden, wenn keine der anderen drei grundlegenden Regelungen zuträfen, auf die aber – im Gegensatz zur Sonderbetreuungszeit – ein Rechtsanspruch bestehe.

Zumindest für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sind weitere Regeln und Gesetze laut Gruber-Risak gar nicht notwendig, um die Betreuung kranker Kinder zu gewährleisten. „Wir müssen nicht dauernd Gesetze in letzter Minute erfinden, es gibt die Instrumente schon“, so Gruber-Risak. Der „gesetzliche Aktivismus“ ist ihm zufolge nicht nötig, vielmehr hätte man die Erziehungsberechtigten von Anfang an richtig informieren können.

Ministerien verteidigen Sonderbetreuungszeit

Sowohl das Bildungs- als auch das zuständige Arbeitsministerium verteidigen weiterhin die Sonderbetreuungszeit und weisen Fragen der Sinnhaftigkeit zurück. „Eine Erweiterung der Sonderbetreuungszeit würde ich für sinnvoll halten. Großflächige Schulschließungen wollen wir vermeiden, deshalb ist es wichtig, dass die Eltern diese Regelung im Krankheitsfall der Kinder in Anspruch nehmen können“, so Bildungsminister Faßmann zu ORF.at, der gleichzeitig hervorhebt: „Die Neuregelung der Sonderbetreuung liegt aber in der Kompetenz der Familienministerin.“

Immerhin wurde die Information der drei rechtlichen Grundlagen (Urlaubsgesetz, Angestelltengesetz und ABGB) auf der Website des Arbeitsministeriums unter den „FAQs“ nun deutlicher klargestellt, und auch in einer Stellungnahme an ORF.at hob das Ministerium die drei Gesetzesgrundlagen deutlich hervor: „Für den Fall der Erkrankung des Kindes sind Familien, wie auch schon vor der Corona-Krise, abgesichert“, schreibt das Arbeitsministerium und stellt in Aussicht: „Über die genaue Regelung der Sonderbetreuungszeit für die kommenden Herbst- und Wintermonate werden wir zeitnah informieren.“

Gegen die Teilrefundierung der Lohnkosten für den Arbeitgeber im Falle der Betreuung kranker Kinder spreche gewiss dennoch gar nichts, so Gruber-Risak. Das hätte man aber auch ohne Sonderregelung umsetzen können, meint er: „Es ist nicht kompliziert, es ist nur kompliziert gemacht worden.“ Aus Sicht der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer müsse es jedoch mit oder ohne Sonderbetreuungszeitregelung heißen dürfen: „Ich bleibe heute daheim, weil ich auf mein krankes Kind aufpassen muss.“