Großbritanniens Premierminister Boris Johnson beim Verlassen der Downing Street No. 10
AP/PA/Stefan Rouseau
Johnsons Chefjurist geht

Brexit-Poker bleibt turbulent

Nach dem im Jänner vollzogenen Austritt des Vereinigten Königreiches aus der Europäischen Union will der britische Premier Boris Johnson nun offenbar das mit Brüssel zuvor mühsam ausverhandelte Vertragswerk wieder aufknüpfen. Das sorgt nicht nur für verdutzte Blicke aus Brüssel: Rund um die jüngste Brexit-Verhandlungsrunde warf nun Johnsons Chefjurist Jonathan Jones das Handtuch.

Jones sei mit den geplanten Änderungen am bereits gültigen Brexit-Abkommen nicht einverstanden gewesen, berichtete dazu die „Financial Times“ („FT“) am Dienstag. Ein Behördensprecher bestätigte zwar Jones’ Rücktritt, nannte aber nicht den Grund dafür.

Johnson fordert laut „Telegraph“ wesentliche Änderungen am bereits gültigen Brexit-Abkommen. Es isoliere den Landesteil Nordirland von Großbritannien – so begründet Johnson dem Bericht zufolge den im Unterhaus am Dienstag dann auch von Nordirland-Minister Brandon Lewis in den Raum gestellten Schritt.

„Sehr begrenzt“

Lewis bestätigte im britischen Parlament dabei nicht nur, dass mit dem Gesetzesvorhaben ein Teil des mit Brüssel ausgehandelten Brexit-Abkommens außer Kraft gesetzt werde. Lewis räumte vielmehr auch ein, dass das internationales Recht verletzen würde – wenn auch nur in „sehr begrenztem Maße“.

Inhaltlich geht es um entscheidende Vertragsklauseln zu Nordirland, die von Anfang an umstritten waren. Sie sollen verhindern, dass zwischen dem britischen Nordirland und dem EU-Staat Irland eine feste Grenze entsteht. Im Austrittsabkommen hatte London akzeptiert, Subventionen für Unternehmen bei der EU anzumelden, sofern sie Geschäfte in Nordirland betreffen.

Zudem müssen nordirische Unternehmen Exporterklärungen abgeben, wenn sie Güter aufs britische Festland bringen wollen. Laut „FT“ würde das von London geplante Binnenmarktgesetz diese vertraglichen Zusagen teilweise zunichtemachen.

Todesstoß für anvisierten Handelsvertrag?

Brexit-Befürworter in London stoßen sich seit jeher an Sonderregeln für Nordirland, weil sie eine Abkopplung der Provinz vom übrigen Vereinigten Königreich befürchten. Johnson unterzeichnete den Austrittsvertrag dennoch eigenhändig. Denn die EU bestand darauf, beim Brexit Kontrollen an der inneririschen Grenze zu verhindern. Das widerspräche dem Karfreitagsfriedensabkommen für Nordirland.

Kritiker fürchten unterdessen, dass die britische Nachforderung zu einer gültigen Vereinbarung der Todesstoß für den anvisierten Handelsvertrag sein könnte. In der Folge könnte es Anfang 2021 – nach dem Ende der Brexit-Übergangsphase – zum harten Bruch mit Zöllen und anderen Handelshemmnissen kommen. Einige Beobachter halten die Äußerungen aus London für ein innenpolitisch motiviertes Manöver, zumal Johnson wegen der Coronavirus-Krise intern mächtig unter Druck steht.

In London stieß das Vorgehen nicht nur bei der Opposition auf Kritik. Auch Johnsons Vorgängerin an der britischen Regierungsspitze, die lange am Brexit-Poker beteiligte und über diesen schließlich gestürzte Theresa May, reagierte mit Kopfschütteln und stellte die Frage: „Wie kann die Regierung angesichts dessen künftigen internationalen Partnern versichern, dass sie darauf vertrauen können, dass Großbritannien die rechtlichen Verpflichtungen in unterzeichneten Abkommen einhält?“

„Würde ernste Konsequenzen haben“

In Brüssel sorgt das jüngste britische Brexit-Manöver unterdessen für ungläubige Blicke. EU-Parlamentspräsident David Sassoli warnte die britische Regierung zudem vor Änderungen des ausverhandelten Austrittsvertrages. „Jeder Versuch, das Abkommen zu ändern, würde ernsthafte Konsequenzen haben“, sagte Sassoli am Dienstag.

Der Brexit-Chefunterhändler der EU, Michel Barnier
AP/Kamil Zihnioglu
EU-Chefverhandler Michel Barnier zeigte sich im Vorfeld der jüngsten Verhandlungsrunde „weiterhin besorgt“

Der besagte Vertrag ist ein gültiges internationales Abkommen, das die gesamten Bedingungen des britischen EU-Austritts regelt. Es wurde 2019 ausgehandelt und vor dem Brexit Ende Jänner ratifiziert. Die EU pocht auf Vertragstreue. Das sei Voraussetzung dafür, dass das für 2021 anvisierte Handelsabkommen mit Großbritannien zustande komme, betonte die EU-Kommission.

Über diesen neuen Pakt wird diese Woche wieder verhandelt. Er soll Zölle und Chaos abwenden, wenn Ende dieses Jahres die Brexit-Übergangsphase ausläuft. Doch nun überschattet die britische Breitseite gegen den Austrittsvertrag die achte Verhandlungsrunde, in deren Vorfeld auch EU-Chefunterhändler Barnier wenig Optimismus verstreute. Mit Blick auf das anhaltende Rosinenpicken Londons zeigte sich der am Dienstag nach London gereiste Barnier vielmehr „weiterhin besorgt“.