Außenminister Alexander Schallenberg (ÖVP)
APA/AFP/Lisi Niesner
Schallenberg zu Moria

„Geschrei nach Verteilung nicht die Lösung“

Nach der Brandkatastrophe im Flüchtlingslager Moria auf Lesbos ist erneut eine Debatte über die Verteilung von Geflüchteten in Europa entbrannt. ÖVP-Außenminister Alexander Schallenberg lehnt eine Aufnahme in Österreich ab: Das „Geschrei nach Verteilung“ könne nicht die Lösung sein. Migrationsforscher Gerald Knaus hingegen plädiert für die Aufnahme anerkannter Flüchtlinge.

In der Nacht auf Donnerstag brach das zweite Mal in Folge im Flüchtlingscamp Moria Feuer aus, dieses Mal in einem Teil des Lagers, der von der vorangegangen Brandkatastrophe nur wenig betroffen war. Die Einrichtung, in der zu diesem Zeitpunkt rund 12.700 Menschen untergebracht waren, wurde großteils zerstört. Am Mittwochabend waren nach neuen Angaben der Behörden noch immer mindestens 3.500 Flüchtlinge obdachlos.

Wo diese Menschen nun hinkommen sollen, darüber ist abermals Streit in der EU entbrannt. ÖVP-Außenminister Alexander Schallenberg verteidigte am Abend in der ZIB2 auch weiterhin die Haltung der Bundesregierung, keine hilfesuchenden Menschen aus Moria in Österreich aufzunehmen. Österreich biete aber „Hilfe vor Ort“. Es gebe eine „Notlage dort. Und ja, die Bilder sind erschreckend, und wir werden helfen“, so Schallenberg.

Österreich habe „sofort eine Million Soforthilfe aus dem Auslandskatastrophenfonds angeboten. Die Griechen wissen selber noch nicht, was sie brauchen. Sie haben bisher auch der Europäischen Union gegenüber signalisiert, dass sie die Situation selber managen können.“ Falls es Bedarf gebe „an Decken, Zelten oder sonstiges geäußert wird, wird Österreich selbstverständlich helfen“.

Andreas Pfeifer (ORF) über die Lage in Moria

Andreas Pfeifer (ORF) spricht über die vielen obdachlosen Flüchtlinge nach der Brandkatastrophe in Moria.

Nicht „in alte Debatte“ zurückfallen

„Das Geschrei nach Verteilung kann nicht die Lösung sein“, so Schallenberg. Die EU dürfe nicht in die „alte Debatte“ zurückfallen, „die wir 2015, 2016 hatten“. „Das ist nicht die Lösung des Problems. Und wir müssen sehr vorsichtig sein, dass wir hier nicht Signale schicken, die dann eine Kettenreaktion auslösen, der wir vielleicht nicht mehr Herr werden.“ Bei seinen Gesprächen mit griechischen Regierungsvertretern hätten diese nicht gefordert, dass Österreich Menschen aufnehme.

„Ich habe heute dreimal mit dem griechischen Kollegen geredet, mit dem Vizepräsidenten der Kommission, (Margaritis, Anm.) Schinas, geredet, das Wort Verteilung oder Übernahme von Flüchtlingen oder unbegleiteten Kinder kam nicht ein einziges Mal vor, war überhaupt kein Thema bei diesen Gesprächen.“

ÖVP-Außenminister Schallenberg über den Brand im Lager Moria

Österreichs Außenminister Alexander Schallenberg spricht über die Folgen des Brandes im Flüchtlingslager im Lager auf Lesbos. Österreich wolle keine Menschen von dort aufnehmen.

„Das ist eine Frage des Hausverstands“

Mit der Diskussion über die Aufnahme von Flüchtlingen unterstütze man nur das Geschäft der Schlepper, argumentierte Schallenberg. „Wir müssen uns überlegen, was wir hier für Signale aussenden. Wenn wir jetzt die Menschen sozusagen aus Lesbos in Europa verteilen, dann erzeugen wir wieder die Hoffnung bei anderen, dass sie sich vielleicht in die Hände der Schlepper begeben, es vielleicht auf eine griechische Insel schaffen. Und dann irgendwann, ob ihr Lager brennt oder nicht, mag ein Anlass sein, es dann doch irgendwie nach Deutschland, Schweden oder sonst wohin zu schaffen. Das kann doch nicht unsere Politik sein. Dann sind wir genau wieder dort, wo wir vor fünf Jahren waren“, sagte Schallenberg.

„Wenn wir das Lager Moria räumen, ist es gleich wieder gefüllt“, sagte er. Sende man Signale aus, dass es eine Hoffnung gebe, nach Europa zu gelangen, würden bald wieder Tausende Flüchtlinge an den Grenzen stehen, etwa in Spielfeld. Die Frage, ob diese Haltung in der Migrationspolitik nicht zynisch sei, wies Schallenberg zurück. „Das ist eine Frage des Hausverstands.“

Vergleich zwischen 4. September und 9. September. Das Lager befindet sich in der Bildmitte.

Von dem Umstand, dass selbst konservative Politikerinnen und Politiker in Deutschland und in Norwegen für die Aufnahme von Teilen der rund 13.000 Flüchtlinge aus Moria eintreten, zeigte sich Schallenberg wenig beeindruckt: „Das ist eine Minderheitenmeinung.“ Die EU-Kommission müsse nun ein Gesamtkonzept vorlegen, so der Außenminister. Leider gebe es bisher innerhalb der Europäischen Union „keine einheitliche Politik im Bereich Asyl und Migration“. Diesbezüglich gebe es Verbesserungsbedarf, auch in den Bereichen „Handelspolitik und Entwicklungszusammenarbeit“.

Wieder Brand in Flüchtlingslager Moria

Im Flüchtlingslager Moria auf der griechischen Insel Lesbos ist nach der Brandkatastrophe noch einmal Feuer ausgebrochen. Zur ersten Brandserie ist es laut griechischer Regierung bei Protesten gegen eine verhängte Coronavirus-Quarantäne im Lager gekommen.

Grüne: Position klar

Ganz anders die Äußerung der grünen Umweltministerin Leonore Gewessler zuvor: „Die Bilder aus Moria machen tief betroffen“, so Gewessler am Rande des Ministerrats. Es sei „ein Gebot der Menschlichkeit“, dass es nun rasch Unterstützung der EU gebe und das Lager evakuiert werde. Die Position der Grünen sei klar, und man führe auch entsprechende Gespräche, antwortete Gewessler auf die Frage, ob Österreich Flüchtlinge aus Griechenland aufnehmen soll.

Die außenpolitische Sprecherin der Grünen, Ewa Ernst-Dziedzic, wolle die Ostägäis-Insel besuchen, wie sie der APA sagte. Und: „Wir sind mit der ÖVP laufend im Gespräch und werden den Druck weiter aufbauen“, so Ernst-Dziedzic. „Fakt ist, wir haben aktuell keine Mehrheit im Parlament“, sagte sie. Im Parlament gegen die ÖVP zu stimmen fände sie „unverantwortlich“, weil so weitere Möglichkeiten, um akut zu handeln, verbaut würden.

Monika Vana, Delegationsleiterin der österreichischen Grünen im Europaparlament, zeigte sich laut Aussendung „entsetzt, aber entschlossen“. Die sofortige Evakuierung des Lagers sei ein erster, wichtiger Schritt, so Vana. „Die einzige akzeptable Reaktion der EU ist ein solider neuer Migrationspakt, um der katastrophalen Lage an den EU-Außenlagern Abhilfe zu schaffen.“ Ende September wird die Kommission voraussichtlich ihren Entwurf zum Migrationspakt vorlegen.

Traiskirchens Bürgermeister will „Solidarität“

Traiskirchens Bürgermeister Andreas Babler (SPÖ) forderte am Donnerstag „Solidarität und Menschlichkeit“ für Lesbos. „Beenden wir diese Schande Europas und holen wir flüchtende Menschen aus diesem Wahnsinn raus“, so Babler in einer Aussendung.

Neues Feuer in Moria ausgebrochen

In Flüchtlingslager Moria auf der griechischen Insel Lesbos ist erneut ein Feuer ausgebrochen.

Moria gilt als Negativbeispiel der europäischen Flüchtlingspolitik und als größtes Flüchtlingslager in der EU. Eigentlich bot Moria nur Platz für rund 2.800 Menschen, war jedoch mit einem Vielfachen davon heillos überfüllt. In den vergangenen Jahren war es immer wieder zu Unruhen und Bränden gekommen.

Knaus: „Guantanamo für Flüchtlinge“

Migrationsforscher Knaus bezeichnete die Brandkatastrophe als „bestangekündigte Katastrophe“ in Europa. Es sei „klar“ gewesen, dass der „Druck“ der Quarantäne „über kurz oder lang zu einen Ausbruch dieser Art führen würde“, sagte er am späten Mittwochabend gegenüber der ZIB Nacht. Knaus schlug als unmittelbare Notmaßnahme den europäischen Ländern vor, bereits anerkannte Flüchtlinge vom griechischen Festland aufzunehmen, um deren Wohnungen für die Tausenden obdachlos gewordenen Menschen aus Moria frei zu machen. Falls Deutschland und einige andere Länder je rund 5.000 Menschen aufnehmen würden, wäre das „ein Signal an Griechenland: Griechenland ist nicht allein.“ Dann könne Athen „sofort anfangen, Menschen unterzubringen“.

Der in Berlin lebende österreichische Migrationsforscher kritisierte die politische Einstellung, wonach „Männer, Frauen und Kinder (in den Flüchtlingslagern, Anm.) auf alle Ewigkeit festgehalten werden müssen“, um eine Erhöhung des Flüchtlingszustroms – einen „Pull-Effekt“ – zu vermeiden. „Das ist, zynisch gesprochen, ein Guantanamo für Flüchtlinge, sie werden da festgehalten auf unbestimmte Zeit“, sagte er in Anspielung auf das US-Gefangenenlager auf Kuba.

Minderjährige werden aufs Festland gebracht

Für die nun obdachlosen Geflüchteten von Moria werde fieberhaft nach Unterkünften gesucht, sagte Migrationsminister Notis Mitarachi. Die ersten Maßnahmen zur Unterbringung liefen bereits an. Eine Fähre mit Platz für Hunderte Menschen wurde zur Insel Lesbos entsandt, teilte das Migrationsministerium am Donnerstag in Athen mit. Zwei griechische Marineschiffe sollen demnach zusätzliche Schlafmöglichkeiten bieten.

165 unbegleitete Minderjährige wurden zudem an Bord eines Flugzeugs von Lesbos zur griechischen Hafenstadt Thessaloniki gebracht. Weitere 240 Minderjährige sollten noch am Donnerstag folgen, berichtete der Rundfunk ERT. Tausende Menschen verbrachten die Nacht auf den Straßen rund um das Lager. Die Polizei stoppte unter Einsatz von Tränengas einige Jugendliche, die versuchten, in die Hauptstadt der Insel zu kommen, wie das griechische Fernsehen berichtete. Zuvor hatten einige Migranten die Polizei mit Steinen angegriffen.

Bewohner des Lager flüchten vor einem erneuten Feuer
Reuters/Alkis Konstantinidis
Menschen, die vergangene Nacht noch nicht geflohen sind, verlassen das Lager

Zur Ursache der Brandkatastrophe hatte Mitarachi zuvor gesagt: „Die Feuer brachen aus, als die Asylwerber gegen die verhängte Quarantäne protestierten.“ Mittlerweile geht die Regierung in Athen von bewusster Brandstiftung durch Lagerinsassen aus. Wenige Stunden vor dem Ausbruch der Brände hatte das Migrationsministerium in Athen mitgeteilt, dass 35 Personen im Lager positiv auf das Coronavirus getestet worden seien.

Demo in Wien

In Wien fanden sich am Mittwochabend unter dem Motto „Wir haben Platz“ rund 300 bis 350 Menschen in Wien zusammen, um gegen die europäische Flüchtlingspolitik zu protestieren. Der Aufruf zur spontanen Demonstration stammte von den Kollektiven „Cross Border Solidarity Wien“ und „Migrantifa Wien“, zwei erst kürzlich gegründete Initiativen gegen Rassismus und Fremdenfeindlichkeit. Sie fordern eine sofortige Evakuierung der Betroffenen in Moria und vollständige Reisefreiheit für die Geflüchteten. „(Lasst) die Leute dorthin reisen, wo sie für sich eine Perspektive sehen! Auch nach Österreich, wenn die Leute dorthin wollen!“, skandierten die Demonstrierenden.

Demonstration in Berlin
APA/AFP/John Macdougall
Auch in Deutschland gab es Proteste mit der Forderung, Menschen aus Moria aufzunehmen

Auf Transparenten und Schildern war in Anspielung auf die Abschottungspolitik der EU unter anderem zu lesen „This fire was set by Europe“ („Diesen Brand hat Europa gelegt“) sowie „Entmenschlichung und Mord, das ist europäische Tradition“. Lautstark wurden außerdem fortwährend Parolen wie „Europe, Frontex and police – stop killing refugees“ („Europa, Frontex und Polizei – hört auf, Flüchtlinge zu ermorden“), „Say it loud, say it clear, refugees are welcome here“ („Sagt es laut und sagt es klar, Flüchtlinge sind willkommen hier“) und „Kein Mensch ist illegal, Bleiberecht überall“ skandiert. Das Polizeiaufgebot war gering, Zwischenfälle gab es keine. Für Freitag ist erneut eine Demonstration in der Wiener Innenstadt geplant.

In Deutschland demonstrierten am Abend sogar Tausende Menschen. Die größte Demo fand in Berlin statt, wo rund 10.000 Menschen auf die Straße gingen, wie die Organisation Seebrücke der Nachrichtenagentur AFP mitteilte. Weitere Proteste gab es etwa in Köln und Hamburg.