Bundespräsident Alexander Van der Bellen
Reuters/Leonhard Föger
Van der Bellen zu Moria

„Größe, jetzt das Richtige zu tun“

Bundespräsident Alexander Van der Bellen hat indirekt die Aufnahme von Flüchtlingen aus dem abgebrannten Lager Moria auf der griechischen Insel Lesbos gefordert. Geflüchtete Menschen in Moria und besonders Kinder ohne Eltern „brauchen jetzt unsere Hilfe“. Österreich habe eine lange Tradition, Menschen in Not zu helfen, und die Größe und Menschlichkeit, jetzt das Richtige zu tun, schrieb Van der Bellen am Donnerstag auf seinen Social-Media-Kanälen.

„Unser Europa sollte Kontinent des Friedens & der Menschenrechte sein. Es ist erschütternd, dass in diesem, unserem gemeinsamen Europa, tausende Menschen, gestrandet auf der Flucht vor Krieg, Verfolgung und Folter, jahrelang in menschenunwürdigen Bedingungen hausen müssen. Und jetzt haben sie auch dieses ‚Obdach‘ verloren. Österreich hat eine lange und große Tradition, Menschen in Not zu helfen. Die Österreicherinnen und Österreicher waren immer bereit, jenen unter die Arme zu greifen, die sich selbst nicht mehr helfen konnten. Geflüchtete Menschen in Moria & besonders Kinder ohne Eltern brauchen jetzt unsere Hilfe. Europa & Österreich hat, da bin ich zuversichtlich, die Größe & Menschlichkeit, jetzt das Richtige zu tun. Es sind genau jene Momente, die uns zeigen, in welchem Europa wir leben“, schrieb Van der Bellen.

Die Situation in Moria stellt indes die türkis-grüne Regierung auf die Probe. „Wir sind mit der ÖVP laufend im Gespräch und werden den Druck weiter aufbauen“, so die außenpolitische Sprecherin der Grünen, Ewa Ernst-Dziedzic, ähnlich äußerten sich zuvor Parteikollegen. ÖVP-Außenminister Alexander Schallenberg lehnte eine Aufnahme von Geflüchteten aber strikt ab.

Grüne wollen mit ÖVP sprechen

Auch wenn die Fronten verhärtet sind, will sich Ernst-Dziedzic – die Lesbos besuchen will – weiterhin für einen Dialog mit der ÖVP über die Aufnahme von Geflüchteten einsetzen. Während die ÖVP strikt gegen die Aufnahme von Menschen aus den meist überfüllten griechischen Camps ist, in denen katastrophale Zustände herrschen, haben sich mehrere grüne Politiker dafür ausgesprochen.

„Fakt ist, wir haben aktuell keine Mehrheit im Parlament“, so Ernst-Dziedzic. Selbst wenn die Grünen mit den Oppositionsparteien SPÖ und NEOS stimmen würden und damit gegen den Koalitionspartner – also einen Koalitionsbruch begehen würden –-, kämen sie gemeinsam auf nur 81 Stimmen, während die ÖVP und die FPÖ auf 101 Stimmen im Nationalrat kommen. „Ich fände es unverantwortlich zu sagen: ‚Gut, wir riskieren das trotzdem‘ und verbauen uns hier die Möglichkeiten, mit dem Koalitionspartner und anderen Stakeholdern zu schauen, was wir akut tun können in der derzeitigen Situation.“

Andreas Pfeifer (ORF) über die Lage in Moria

Andreas Pfeifer (ORF) spricht über die vielen obdachlosen Flüchtlinge nach der Brandkatastrophe in Moria.

„Keine kurzfristigen Phänomene“

Zur Aussage von Innenminister Karl Nehammer (ÖVP), der die mutmaßliche Brandstiftung in Moria durch Geflüchtete mit den Worten „Gewaltbereite Migranten haben keine Chance auf Asyl in Europa“ kommentierte, sagte Ernst-Dziedzic, dass knapp 13.000 Menschen „nicht unter Generalverdacht“ gestellt werden könnten. Auch sei es zynisch zu glauben, dass die Bilder von überfüllten Camps als „Abschreckung“ für mögliche neue Migranten dienen würden. „Flucht und Migration sind keine kurzfristigen Phänomene.“ Die rot-grüne Wiener Stadtregierung wiederholte am Donnerstag ihren Appell an den Bund, 100 Flüchtlingskinder aus Moria auf Lesbos aufzunehmen – mehr dazu in wien.ORF.at.

Die griechische Regierung teilte Donnerstagnachmittag mit, Migranten selbst hätten den Großbrand gelegt. „Das Feuer wurde von Menschen gelegt, die Asyl beantragt haben – als Reaktion auf die wegen des Coronavirus verhängte Quarantäne (in Moria)“, sagte der Sprecher der konservativen Regierung, Stelios Petsas, am Donnerstag. Es handle sich um Menschen, die „ihr Gastland nicht respektieren“, so Petsas.

Das ausgebrannte Flüchtlingslager Moria auf der griechischen Insel Lesbos
Reuters/Alkis Konstantinidis
In der Nacht auf Donnerstag brach das zweite Mal in Folge im Flüchtlingscamp Moria Feuer aus

In der Nacht auf Donnerstag brach das zweite Mal in Folge im Flüchtlingscamp Moria Feuer aus, dieses Mal in einem Teil des Lagers, der von der vorangegangenen Brandkatastrophe nur wenig betroffen war. Die Einrichtung, in der zu diesem Zeitpunkt rund 12.700 Menschen untergebracht waren, wurde in der Nacht auf Mittwoch großteils zerstört. Am Mittwochabend waren nach neuen Angaben der Behörden noch immer mindestens 3.500 Flüchtlinge obdachlos.

„Geschrei nach Verteilung keine Lösung“

Wo diese Menschen hinkommen sollen, darüber ist abermals Streit in der EU entbrannt. Schallenberg hatte am Mittwochabend in der ZIB2 argumentiert, mit der Diskussion über die Aufnahme von Flüchtlingen, unterstütze man nur das Geschäft der Schlepper. „Das Geschrei nach Verteilung kann nicht die Lösung sein“, so Schallenberg. Die EU dürfe nicht in die „alte Debatte“ zurückfallen und über die Verteilung von Flüchtlingen reden.

ÖVP-Außenminister Schallenberg über den Brand im Lager Moria

ÖVP-Außenminister Alexander Schallenberg sprach über die Folgen des Brandes im Flüchtlingslager im Lager auf Lesbos. Österreich wolle keine Menschen von dort aufnehmen.

„Wir müssen diese Debatte deemotionalisieren und rationalisieren“, sagte der Außenminister. „Wenn wir die Hoffnung geben, dass es geht, werden sich auch andere auf den Weg machen.“ Auf die Frage, ob es nicht zynisch sei, wenn Tausende Menschen, darunter Hunderte Kinder, ohne Obdach seien, sagte Schallenberg: „Es geht immer nur um ein paar hundert Kinder.“ Das sei nicht zynisch, „sondern die Wahrheit“ und „eine Frage des Hausverstands“. Österreich habe „sofort eine Million Soforthilfe aus dem Auslandskatastrophenfonds angeboten. Die Griechen wissen selber noch nicht, was sie brauchen.“

Kogler zu Schallenberg: „Weniger Zynismus“

Vizekanzler Werner Kogler (Grüne) kritisierte eben diese Aussagen von Schallenberg scharf: „Ich erwarte mir mehr europäischen Geist und mehr Menschlichkeit und weniger Zynismus“, so der Grünen-Chef im „Standard“. Kogler will den Koalitionspartner überzeugen, dass angesichts der dramatischen und unmenschlichen Zustände in Moria insbesondere für Mütter und Kinder schnelle Hilfe notwendig sei: „Wenn Deutschlands Kanzlerin (Angela) Merkel und Frankreichs Präsident (Emmanuel) Macron und sogar der bayrische Ministerpräsident (Markus) Söder Kinder aufnehmen, dann kann das Österreich auch.“

Merkel und Macron wollen zusammen mit anderen EU-Ländern, die sich dazu bereiterklärt hatten, etwa 400 Minderjährige aus dem zerstörten Flüchtlingslager auf Lesbos aufnehmen. Der griechische Regierungschef Kyriakos Mitsotakis habe die deutsche Kanzlerin darum gebeten, sagte diese am Donnerstag bei einer Diskussion in der Konrad-Adenauer-Stiftung in Berlin. Die anvisierte Zahl von 400 sei nur eine etwaige Größenordnung und könne sich im Laufe der Gespräche über die gemeinsame Initiative noch ändern.

Kurz-Vertrauter Rutte will 100 Menschen aufnehmen

Auch die Niederlande kündigten überraschend an, 100 Menschen aus dem abgebrannten Flüchtlingslager aufzunehmen. Bisher hatte die Regierung des rechtsliberalen Premiers Mark Rutte die Aufnahme von Flüchtlingen aus Griechenland strikt abgelehnt. Das Feuer habe die Lage dramatisch geändert, begründete die zuständige Staatssekretärin Ankie Broekers-Knol in einem Brief an das Parlament den Kurswechsel. „In dieser besonderen Situation sind nach Ansicht der Regierung außergewöhnliche Schritte notwendig.“ Die Niederlande wollen Jugendliche und Familien mit Kindern aufnehmen. Rutte gilt auf EU-Ebene als enger Vertrauter von Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP).

Vergleich zwischen 4. September und 9. September. Das Lager befindet sich in der Bildmitte.

Auch SPÖ und NEOS für Aufnahme von Kindern

Für die Aufnahme von Kindern aus dem Lager sprachen sich am Donnerstag auch SPÖ und NEOS aus. „Wer Kinder verkommen lassen will, vergeht sich an den Werten Österreichs und Europas. Moria ist eine Schande und offenbart die Feigheit und Kleingeistigkeit einiger europäischer Regierungen, Kinder in Elend zurückzulassen, statt für rasche Hilfe und Lösungen zu sorgen“, sagte SPÖ-Chefin Pamela Rendi-Wagner.

NEOS setzte auf Aktionismus und lud zu einer Inszenierung vor dem Außenministerium. Unterstützt wurde die Forderung nach Aufnahme von Menschen von mehreren heimischen Hilfsorganisationen wie Ärzte ohne Grenzen, Caritas und Rotes Kreuz. Auch die Bischofskonferenz meldete sich am Donnerstag zu Wort und forderte die Regierung auf, sich an der Aufnahme von Flüchtlingen aus dem niedergebrannten Lager zu beteiligen – mehr dazu in religion.ORF.at.

Neues Feuer in Moria ausgebrochen

In Flüchtlingslager Moria auf der griechischen Insel Lesbos brach in der Nacht erneut ein Feuer aus

Moria gilt als Negativbeispiel der europäischen Flüchtlingspolitik und als größtes Flüchtlingslager in der EU. Eigentlich bot Moria nur Platz für rund 2.800 Menschen, war jedoch mit einem Vielfachen davon heillos überfüllt. In den vergangenen Jahren war es immer wieder zu Unruhen und Bränden gekommen.

Minderjährige werden auf Festland gebracht

Für die nun obdachlosen Geflüchteten von Moria werde fieberhaft nach Unterkünften gesucht, sagte der griechische Migrationsminister Notis Mitarachi. Die ersten Maßnahmen zur Unterbringung liefen bereits an. Eine Fähre mit Platz für Hunderte Menschen wurde zur Insel Lesbos entsandt, teilte das Migrationsministerium am Donnerstag in Athen mit. Zwei griechische Marineschiffe sollen zusätzliche Schlafmöglichkeiten bieten.

165 unbegleitete Minderjährige wurden zudem an Bord eines Flugzeugs von Lesbos zur griechischen Hafenstadt Thessaloniki gebracht. Weitere 240 Minderjährige sollten noch am Donnerstag folgen, berichtete der Rundfunk ERT.

Bewohner des Lager flüchten vor einem erneuten Feuer
Reuters/Alkis Konstantinidis
Menschen, die vergangene Nacht noch nicht geflohen sind, verlassen das Lager

Zur Ursache der Brandkatastrophe hatte Mitarachi zuvor gesagt: „Die Feuer brachen aus, als die Asylwerber gegen die verhängte Quarantäne protestierten.“ Mittlerweile geht die Regierung in Athen von bewusster Brandstiftung durch Lagerinsassen aus. Wenige Stunden vor dem Ausbruch der Brände hatte das Migrationsministerium in Athen mitgeteilt, dass 35 Personen im Lager positiv auf das Coronavirus getestet worden seien.