Vater mit Sohn sitzt in eine Decke eingewickelt in Moria
APA/AFP/Louisa Gouliamaki
Moria spaltet Koalition

Erste Länder in EU nehmen Geflüchtete auf

In Österreich belastet die Frage nach dem Umgang mit Tausenden gestrandeten Menschen in Moria die Koalition. Die ÖVP stellt sich kategorisch gegen eine Aufnahme von Flüchtlingen aus dem zerstörten griechischen Flüchtlingslager. Die Grünen kündigten an, auf den Koalitionspartner einwirken zu wollen. Die ersten Länder in der EU erklärten sich in der Zwischenzeit bereit, zumindest Minderjährige aufzunehmen.

Deutschland und Frankreich wollen nach dem Großbrand im griechischen Flüchtlingslager Moria mehr minderjährige Migranten aufnehmen – möglichst gemeinsam mit anderen EU-Ländern. Um die Übernahme habe sie Regierungschef Kyriakos Mitsotakis gebeten, sagte Kanzlerin Angela Merkel (CDU) am Donnerstag bei einer Diskussion mit dem Vorsitzenden der Europäischen Volkspartei EVP, Donald Tusk, in Berlin. Eine konkrete Zahl, wie viele Menschen Deutschland aufnehmen wird, nannte Merkel nicht. Unterdessen hat Griechenland bis Donnerstag bereits 400 Minderjährige, die ohne Begleitung ihrer Eltern unterwegs sind, von der Insel Lesbos in die Hafenstadt Thessaloniki geflogen.

Merkel sagte, sie hoffe, dass sich auch andere EU-Mitgliedsstaaten an der Aufnahme der minderjährigen Flüchtlinge beteiligen. Sie habe mit Mitsotakis zudem besprochen, dass man sofort dabei helfe, eine neue und bessere Unterbringung für die vom Feuer betroffenen Menschen sicherzustellen. „So kann es nicht bleiben, und Deutschland wird sich daran beteiligen“, sagte die Kanzlerin.

Aufnahme von Flüchtlingen weiter umstritten

Nach den Bränden im griechischen Flüchtlingslager Moria auf der Insel Lesbos sind dort fast 13.000 Menschen ohne Unterkunft. Deutschland und Frankreich haben angekündigt, minderjährige Flüchtlinge aufzunehmen. Auch die Niederlande haben der Aufnahme von 100 Menschen zugestimmt. In Österreich ist die Aufnahme hingegen weiterhin stark umstritten. Die ÖVP ist strikt dagegen, die Grünen würden gerne, scheitern aber an der Koalitionsdisziplin.

Auch die Niederlande kündigten überraschend an, 100 Menschen aus dem abgebrannten Flüchtlingslager aufzunehmen. Bisher hatte die Regierung des rechtsliberalen Premiers Mark Rutte die Aufnahme von Flüchtlingen aus Griechenland strikt abgelehnt. Das Feuer habe die Lage dramatisch geändert, begründete die zuständige Staatssekretärin Ankie Broekers-Knol in einem Brief an das Parlament den Kurswechsel. „In dieser besonderen Situation sind nach Ansicht der Regierung außergewöhnliche Schritte notwendig.“ Die Niederlande wollen Jugendliche und Familien mit Kindern aufnehmen. Rutte gilt auf EU-Ebene als enger Vertrauter von Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP).

Kogler kritisiert „Zynismus“

Kanzler Kurz und seine ÖVP lehnen eine solche Aufnahme allerdings weiter ab. Auf dieser Linie operiert auch der von der ÖVP nominierte österreichische Außenminister Alexander Schallenberg. In einem Interview mit der ZIB2 am Mittwochabend sprach er wörtlich von einem „Geschrei nach Verteilung“. Auf die Frage, ob es nicht zynisch sei, wenn Tausende Menschen, darunter Hunderte Kinder, ohne Obdach seien, sagte Schallenberg: „Es geht immer nur um ein paar hundert Kinder.“

Beim Koalitionspartner sorgt diese Haltung ganz offensichtlich für mehr als nur Bauchweh. Am Donnerstag meldete sich – nach ersten kritischen Wortmeldungen aus seiner Partei – schließlich auch Grünen-Chef und Vizekanzler Werner Kogler zu Wort. „Ich erwarte mir mehr europäischen Geist und mehr Menschlichkeit und weniger Zynismus“, sagte Kogler im „Standard“. „Wenn Deutschlands Kanzlerin (Angela) Merkel und Frankreichs Präsident (Emmanuel) Macron und sogar der bayrische Ministerpräsident (Markus) Söder Kinder aufnehmen, dann kann das Österreich auch“, sagte Kogler.

Verweis auf Gespräche in der Koalition

In der ZIB2 am Donnerstagabend sagte die Grüne Klubobfrau Sigrid Maurer, man sei mit dem Koalitionspartner im Gespräch. Zuvor hatten allerdings sowohl das Kanzleramt als auch der ÖVP-Parlamentsklub auf Nachfrage der ZIB2 gesagt, die Grünen seien nicht auf die ÖVP zukommen. Dem widersprach Maurer. So sei das Thema etwa von Klimaschutzministerin Leonore Gewessler (Grüne) am Mittwoch im Ministerrat angesprochen worden. Die ÖVP sei aber offensichtlich bereits voll im Wien-Wahlkampf. „Wir beißen da leider auf Granit“, so Maurer.

Klubobfrau Maurer (Grüne) im Interview

Sigrid Maurer, Klubobfrau der Grünen, im Gespräch über die Debatte um eine Aufnahme von Flüchtlingen aus dem griechischen Lager Moria.

Zuvor hatte die außenpolitische Sprecherin der Grünen, Ewa Ernst-Dziedzic, angekündigt, mit der ÖVP in Dialog zu treten, auch wenn die Fronten verhärtet seien. „Fakt ist, wir haben aktuell keine Mehrheit im Parlament“, so Ernst-Dziedzic. Selbst wenn die Grünen mit den Oppositionsparteien SPÖ und NEOS stimmen würden und damit gegen den Koalitionspartner – also einen Koalitionsbruch begehen würden –, kämen sie gemeinsam auf nur 81 Stimmen, während die ÖVP und die FPÖ auf 101 Stimmen im Nationalrat kommen.

Den Grünen war – unter anderem in Sozialen Netzwerken – von vielen Seiten vorgeworfen worden, bei dem Thema vor dem Koalitionspartner einzubrechen. Die rot-grüne Wiener Stadtregierung wiederholte am Donnerstag ihren Appell an den Bund, 100 Flüchtlingskinder aus Moria auf Lesbos aufzunehmen – mehr dazu in wien.ORF.at.

Van der Bellen: „Größe, jetzt das Richtige zu tun“

Am Donnerstag meldete sich auch Bundespräsident Alexander Van der Bellen. Er forderte indirekt die Aufnahme von Flüchtlingen aus Moria. „Unser Europa sollte Kontinent des Friedens & der Menschenrechte sein. Es ist erschütternd, dass in diesem, unserem gemeinsamen Europa, tausende Menschen, gestrandet auf der Flucht vor Krieg, Verfolgung und Folter, jahrelang in menschenunwürdigen Bedingungen hausen müssen. Und jetzt haben sie auch dieses ‚Obdach‘ verloren“, schrieb Van der Bellen.

Der Bundespräsident verwies auf die lange und große Tradition Österreichs, Menschen in Not zu helfen. „Geflüchtete Menschen in Moria und besonders Kinder ohne Eltern brauchen jetzt unsere Hilfe. Europa und Österreich haben, da bin ich zuversichtlich, die Größe und Menschlichkeit, jetzt das Richtige zu tun. Es sind genau jene Momente, die uns zeigen, in welchem Europa wir leben“, so das Staatsoberhaupt.

Auch SPÖ und NEOS für Aufnahme von Kindern

Für die Aufnahme von Kindern aus dem Lager sprachen sich am Donnerstag auch SPÖ und NEOS aus. „Wer Kinder verkommen lassen will, vergeht sich an den Werten Österreichs und Europas. Moria ist eine Schande und offenbart die Feigheit und Kleingeistigkeit einiger europäischer Regierungen, Kinder in Elend zurückzulassen, statt für rasche Hilfe und Lösungen zu sorgen“, sagte SPÖ-Chefin Pamela Rendi-Wagner.

Flüchtlinge in Zelten vor dem Moria-Camp
Reuters/Alkis Konstantinidis
Durch die Brände im überfüllten Flüchtlingslager auf Moria haben Tausende Menschen ihr Obdach verloren

NEOS setzte auf Aktionismus und lud zu einer Inszenierung vor dem Außenministerium. Unterstützt wurde die Forderung nach Aufnahme von Menschen von mehreren heimischen Hilfsorganisationen wie Ärzte ohne Grenzen, Caritas und Rotes Kreuz. Auch die Bischofskonferenz meldete sich am Donnerstag zu Wort und forderte die Regierung auf, sich an der Aufnahme von Flüchtlingen aus dem niedergebrannten Lager zu beteiligen – mehr dazu in religion.ORF.at.

„Keine kurzfristigen Phänomene“

Die griechische Regierung teilte Donnerstagnachmittag mit, Migranten selbst hätten den Großbrand gelegt. „Das Feuer wurde von Menschen gelegt, die Asyl beantragt haben – als Reaktion auf die wegen des Coronavirus verhängte Quarantäne (in Moria)“, sagte der Sprecher der konservativen Regierung, Stelios Petsas, am Donnerstag. Es handle sich um Menschen, die „ihr Gastland nicht respektieren“, so Petsas. Vor der Eskalation wurden 35 Personen im Lager positiv auf das Coronavirus getestet.

Vergleich zwischen 4. September und 9. September. Das Lager befindet sich in der Bildmitte.

In der Nacht auf Donnerstag brach das zweite Mal in Folge im Flüchtlingscamp Moria Feuer aus, dieses Mal in einem Teil des Lagers, der von der vorangegangenen Brandkatastrophe nur wenig betroffen war. Die Einrichtung, in der zu diesem Zeitpunkt rund 12.700 Menschen untergebracht waren, wurde in der Nacht auf Mittwoch großteils zerstört. Am Mittwochabend waren nach neuen Angaben der Behörden noch immer mindestens 3.500 Flüchtlinge obdachlos.

Moria gilt als Negativbeispiel der europäischen Flüchtlingspolitik und als größtes Flüchtlingslager in der EU. Eigentlich bot Moria nur Platz für rund 2.800 Menschen, war jedoch mit einem Vielfachen davon heillos überfüllt. In den vergangenen Jahren war es immer wieder zu Unruhen und kleineren Bränden gekommen.