Flüchtlinge liegen nach dem Brand im Flüchtlingslager Moria auf der Straße
APA/AFP/Louisa Gouliamaki
Moria-Flüchtlinge

Koalition spricht über humanitäre Hilfe

Die Regierungsspitze hat am Freitag einen Streit auf offener Bühne wegen der Aufnahme von Flüchtlingen aus dem abgebrannten griechischen Lager Moria vermieden. Sowohl Kanzler Sebastian Kurz (ÖVP) als auch Vizekanzler Werner Kogler (Grüne) betonten, dass die unterschiedlichen Haltungen der Parteien hinlänglich bekannt seien. Gesprochen werde aber über weitere Schritte bei humanitärer Hilfe.

Bei der Hilfe an Ort und Stelle gebe es gemeinsame Schnittstellen, sagte Kurz bei der gemeinsamen Pressekonferenz zur Coronavirus-Ampel. Zur Zusammenarbeit in der Regierung meinte der Kanzler, diese funktioniere „gut“. Die Grünen sind dafür, Flüchtlinge aus Moria aufzunehmen, was die Volkspartei vehement ablehnt. Das hatte zu teils scharfer Kritik Koglers und der grünen Klubobfrau Sigrid Maurer geführt.

Maurer hatte die ÖVP am Donnerstag in der ZIB2 frontal angegriffen, weil sie die Aufnahme von betroffenen Flüchtlingen verhindert. Ihre Partei sei „durchaus kampfbereit“. ÖVP-Außenminister Alexander Schallenberg, der am Vortag in derselben Sendung ein „Geschrei nach Aufteilung“ bezüglich Flüchtlingen kritisiert hatte, wurde von Maurer ebenfalls ins Visier genommen. Als Hintergrund vermutete die grüne Klubchefin den Wien-Wahlkampf der ÖVP.

Klubobfrau Maurer (Grüne) im Interview

Sigrid Maurer, Klubobfrau der Grünen, im Gespräch zur Debatte über eine Aufnahme von Flüchtlingen aus dem griechischen Lager Moria.

Van der Bellen indirekt für Aufnahme

Am Donnerstag hatte sich – nach ersten kritischen Wortmeldungen aus seiner Partei – auch Grünen-Chef und Vizekanzler Kogler zu Wort gemeldet. „Ich erwarte mir mehr europäischen Geist und mehr Menschlichkeit und weniger Zynismus“, sagte Kogler im „Standard“. Den Grünen war – unter anderem in Sozialen Netzwerken – von vielen Seiten vorgeworfen worden, bei dem Thema vor dem Koalitionspartner einzubrechen. Am Donnerstag meldete sich auch Bundespräsident Alexander Van der Bellen zu Wort. Er forderte indirekt die Aufnahme von Flüchtlingen aus Moria.

ÖVP-Außenminister Schallenberg über den Brand im Lager Moria

ÖVP-Außenminister Alexander Schallenberg spricht über die Folgen des Brandes im Flüchtlingslager auf Lesbos. Österreich wolle keine Menschen von dort aufnehmen.

Scharfe Kritik von Reimon

Scharfe Kritik kam am Freitag auch vom Europasprecher der Grünen, Michel Reimon. Blockieren in einer Koalition sei leicht, so Reimon auf Facebook. „Kann man machen. Jeder. Das erfordert kein Talent“, so Reimon in Richtung des Kanzlers und ÖVP-Chefs, ohne seinen Namen direkt zu nennen. „Vielleicht wird man so, wenn man erst in der Jugendorganisation alle wegputscht, dann in der Partei, dann eine Koalition sprengt und gleich drauf die nächste auch“, so der grüne Abgeordnete in dem Posting.

„Vielleicht wird man so, wenn man mit 25 schon so eine Parteikarriere hinter sich, keinen einzigen Tag in der Privatwirtschaft gearbeitet und keine Ausbildung fertig hat und als Staatssekretär trotzdem 16.000 EUR im Monat verdient. Und dann wird man Minister und Kanzler und die Blockaden zahlen sich aus, in jeder Hinsicht. Vielleicht kann man dann in der dritten Koalition gar nimmer anders, weil man ja nix anderes gelernt hat.“

Wenn man bald zehn Jahre auf der Regierungsbank sitze und „keine Reform durchgebracht hat, keine große Erneuerung, keine Modernisierung, vielleicht geht dann nur mehr Blockade. Dann nennt man natürlich als größten Erfolg dieser 10 Jahre auch eine große Blockade: Ich habe eine Route geschlossen.“ Kinder, Frauen, Männer holen „warat nicht schwer“, so Reimon: „Wir erledigen alles, die Zivilgesellschaft, Gemeinden, Länder, NGOs kümmern sich sofort drum. Es muss nur einer mal was anderes tun als zu blockieren.“

NGOS unterstützen Forderung

Unterstützt wurde die Forderung nach Aufnahme von Menschen von SPÖ und NEOS sowie von mehreren heimischen Hilfsorganisationen wie Ärzte ohne Grenzen, Caritas und Rotes Kreuz. Auch die Bischofskonferenz meldete sich am Donnerstag zu Wort und forderte die Regierung auf, sich an der Aufnahme von Flüchtlingen aus dem niedergebrannten Lager zu beteiligen – mehr dazu in religion.ORF.at.

Freitagabend protestierten Hunderte in Wien unter dem Motto „Wir haben Platz“ für eine Aufnahme von Geflüchteten. Sie hielten Transparente wie „Moria ist Mord“ in Händen und schrien: „Say it loud, say it clear: Refugees are welcome here!“ Zu der Demonstration hatten linke Gruppierungen aufgerufen, die unter anderem die Schließung aller Flüchtlingslager forderten und Kritik an der „von Österreich mitgetragenen Abschottungspolitik der EU“ übten.

Zusagen aus zehn Ländern

Nach Angaben des deutschen Innenministers Horst Seehofer (CSU) beteiligen sich neben Deutschland acht weitere EU-Staaten und die Schweiz an der Aufnahme von 400 unbegleiteten Minderjährigen. Man sei zudem mit weiteren Ländern im Gespräch, wie Seehofer in Berlin sagte. Mit Verweis auf die Regierungsbeteiligung der Grünen zeigte sich Seehofer indes „überrascht“, dass Österreich keine Zusage gemacht habe.

Flüchtlinge in Zelten vor dem Moria-Camp
Reuters/Alkis Konstantinidis
Durch die Brände im überfüllten Flüchtlingslager Moria haben Tausende Menschen ihr Obdach verloren

Ein Großteil der Menschen – je hundert bis 150 – werde von Deutschland und Frankreich aufgenommen, so Seehofer. Auch Italien hat bereits zugesagt, den deutsch-franzöischen Plan zu unterstützen, so Regierungschef Giuseppe Conte laut Nachrichtenagentur ANSA am Donnerstagabend am Rande des EU-Südstaaten-Gipfels in Ajaccio auf Korsika.

Andreas Pfeifer (ORF) über die Lage in Moria

Andreas Pfeifer (ORF) spricht über die vielen obdachlosen Flüchtlinge nach der Brandkatastrophe in Moria.

Auch die Niederlande kündigten überraschend an, hundert Menschen aus dem abgebrannten Flüchtlingslager aufzunehmen. Bisher hatte die Regierung des rechtsliberalen Premiers Mark Rutte die Aufnahme von Flüchtlingen aus Griechenland strikt abgelehnt. Rutte gilt auf EU-Ebene als Vertrauter von Bundeskanzler Kurz.

Asselborn: Missetäter Sebastian Kurz

Luxemburgs Außenminister Jean Asselborn machte indes Kurz persönlich für das Scheitern der europäischen Flüchtlingspolitik verantwortlich. „Für mich heißt der Missetäter Sebastian Kurz. Er hat diese erbärmliche Situation als Allererster zu verantworten“, sagte Asselborn dem deutschen Magazin „Der Spiegel“ laut einer Vorausmeldung vom Freitag.

„Ganz Europa ging Kurz’ Gerede auf den Leim, man müsse nur die Grenzen schließen, damit sich das Flüchtlingsproblem erledige“, so der sozialdemokratische Politiker. Zudem habe Österreich „ausgerechnet, als es die EU-Ratspräsidentschaft innehatte“, den UNO-Migrationspakt abgelehnt.

Brand in Moria: Zwist in der Regierung

Die ÖVP ist weiterhin gegen eine Aufnahme von Flüchtlingen, die von der Brandkatastrophe in Moria auf der Insel Lesbos betroffen sind. Von den Grünen gibt es dafür harsche Kritik. Die Regierungsspitze bleibt zurückhaltend. Man will aber über humanitäre Hilfe sprechen.

Der Außenpolitik- und Sicherheitssprecher der ÖVP im Europaparlament, Lukas Mandl, sah darin ein „Österreich-Bashing“. „Täglich grüßt das Murmeltier“, so Mandl am Freitag auf Twitter. „Schade, wir sollten in Europa anders miteinander umgehen, gemeinsam menschen- & sachgerechte Lösungen suchen und umsetzen“, schrieb er.

EU-Abgeordnete gegen Wiederaufbau

Unterdessen warnten 159 Europaabgeordnete vor dem Wiederaufbau des Camps in Moria und forderten die Aufnahme der rund 13.000 Menschen durch andere EU-Staaten. „Moria wiederaufzubauen ist keine Lösung, ebenso wenig ist eine Lösung, andere Camps mit ähnlichen Bedingungen zu schaffen“, heißt es in einem Schreiben an die zuständigen EU-Kommissare sowie an den deutschen Innenminister Seehofer als Vertreter der EU-Ratspräsidentschaft.

Für die Menschen müssten nachhaltige Lösungen gefunden werden, so die Abgeordneten mehrerer Fraktionen. Die Abgeordneten fordern auch, dass Griechenland mit Coronavirus-Tests sowie mit medizinischem Personal und mit Ausrüstung versorgt werden müsse. Mehr als 60 Unterzeichner des Briefs gehören der Grünen an. Das Schreiben wurde aber auch von Sozialdemokraten, Linken und einigen Christdemokraten unterschrieben. Hinzu kommen drei Fraktionslose sowie ein Mitglied der rechten EKR-Gruppe.

EU-Kommission startet neuen Anlauf für Flüchtlingspolitik

Die EU-Kommission wird nach Angaben von Migrationskommissar Margaritis Schinas am 30. September einen neuen Anlauf für eine gemeinsame EU-Flüchtlingspolitik vorlegen. Das kündigte Schinas am Freitag in Berlin in einer gemeinsamen Pressekonferenz mit Seehofer an.

Die Initiative habe drei Elemente. Erstens wolle man mit größerer Hilfe für Entwicklungsländern dafür sorgen, dass Menschen gar nicht erst ihre Heimat verließen. Zweitens wolle man die EU-Außengrenzen besser und „robust“ mit einer neuen Küstenwache und mehr Personal schützen. Drittens wolle man ein dauerhaftes System von Solidarität unter allen EU-Staaten erreichen, um die Herausforderungen durch Asylwerber zu bewältigen.

Athen verstärkt Polizeipräsenz auf Lesbos

Angesichts wachsender Spannungen nach dem Großbrand verstärkte die griechische Regierung die Polizeikräfte auf Lesbos. Wie das griechische Fernsehen zeigte, kamen Freitagfrüh mehrere Busse mit zusätzlichen Bereitschaftspolizisten sowie zwei Wasserwerfern an Bord einer Fähre in der Inselhauptstadt Mytilini an.

Vergleich zwischen 4. September und 9. September. Das Lager befindet sich in der Bildmitte.

Nach dem Brand herrschen auf der Insel chaotische Zustände. Mehr als 12.000 Geflüchtete verbrachten die dritte Nacht in Folge im Freien. Manche legten immer wieder Feuer in den übrig gebliebenen Teilen des Lagers und den umliegenden Feldern und attackierten die Polizei. Die Verstärkung der Polizeieinheiten richtet sich aber auch an die zunehmend aufgebrachten Inselbewohner. Viele, darunter fast alle Bürgermeister, wollen nach dem Brand in Moria keine Migranten mehr auf der Insel haben.

Provisorisches Zeltlager wird errichtet

Die griechischen Behörden begannen derweil auf Lesbos mit der Errichtung eines provisorischen Zeltlagers. Darin soll bis auf Weiteres ein Großteil der Flüchtlinge untergebracht werden, die durch die Zerstörung Morias vor drei Tagen obdachlos geworden sind. Nach dpa-Informationen soll das Lager auf einem Truppenübungsplatz der griechischen Armee errichtet werden. Das Gelände liegt nur wenige Kilometer nördlich von Mytilini an der Küste. In der Nähe befindet sich bereits ein kleineres Lager namens Kara Tepe, das vom UNO-Flüchtlingshochkommissariat (UNHCR) und der Gemeinde Mytilini betrieben wird.