Bundeskanzler Sebastian Kurz
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Trotz aller Appelle

Kurz gegen Flüchtlingsaufnahme aus Moria

Trotz unzähliger Appelle von allen Seiten bleibt Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP) im Ringen um die Aufnahme von Geflüchteten aus dem niedergebrannten Lager Moria bei seiner Linie. In einer Samstagfrüh auf Facebook veröffentlichten Videobotschaft bekräftigte er, dass Österreich – anders als Deutschland und Frankreich – auch keine Kinder aufnehmen wolle.

Kurz warnt in seinem Video vor einer Wiederholung der Flüchtlingskrise des Jahres 2015. „Dieses menschenunwürdige System aus 2015, das kann ich mit meinem Gewissen nicht vereinbaren.“ Vielmehr werde man „vor Ort helfen, damit eine menschenwürdige Versorgung sichergestellt ist“, sagte Kurz. „Dazu sind wir in Gesprächen mit dem Koalitionspartner.“

Die Grünen sind dafür, Flüchtlinge aus Moria aufzunehmen, sowohl Vizekanzler Werner Kogler als auch die grüne Klubobfrau Sigrid Maurer kritisierten die Haltung der Volkspartei zuvor scharf.

„Ganzheitlicher Ansatz“ auf europäischer Ebene

„Auf europäischer Ebene werden wir uns für einen ganzheitlichen Ansatz einsetzen. Was wir nicht brauchen, ist Symbolpolitik“, sagte er in offenkundiger Anspielung auf die deutsch-französische Initiative zur Aufnahme von Kindern und Jugendlichen aus Moria. Es brauche vielmehr „echte nachhaltige Unterstützung für betroffene Gebiete, eine wirtschaftliche Perspektive für den afrikanischen Kontinent und auch einen effektiven Schutz unserer Außengrenzen“, sagte er.

Es gehe bei der Frage über die Aufnahme von Menschen nicht nur um Moria, sondern auch um andere Orte in der Welt, die nicht im Scheinwerfergebiet der Medien sind, so Kurz, der eingangs von seinen Besuchen in Flüchtlingslagern etwa im Irak oder Somaliland und seiner Betroffenheit über die dortigen Zustände berichtete.

„Schreckliche Bilder am Bahnhof in Budapest“

Es seien die „schrecklichen Bilder am Bahnhof in Budapest“ im Sommer 2015 gewesen, die dazu geführt hätten, „dass die europäische Politik dem Druck nachgegeben hat und die Grenzen geöffnet hat“, sagte Kurz. Daraufhin hätten sich zunächst Tausende, dann Zehntausende und am Ende eine Million auf den Weg gemacht. Schlepper hätten Unsummen verdient, unzählige Menschen seien im Mittelmeer ertrunken, wiederholte Kurz seine seit fünf Jahren unveränderte Argumentation, von der er offenbar auch unter wachsendem innenpolitischem Druck nicht abrücken möchte.

Flüchtlinge übernachten auf einer Tankstelle in Moria
Reuters/Alkis Konstantinidis
Tausende Menschen, darunter viele Kinder, mussten aus dem niedergebrannten Lager fliehen

Kurz wandte sich in dem siebenminütigen Clip auch gegen den Eindruck, dass Österreich nichts für Flüchtlinge tue. „Allein in diesem Jahr hat Österreich 3.700 Kinder aufgenommen. Das sind rund 100 Kinder pro Woche, die einen positiven Asylbescheid bekommen haben und hier in Österreich Sicherheit gefunden haben.“ Kurz sprach nicht aus, dass es sich dabei aufgrund der geschlossenen Grenzen praktisch ausschließlich um Aufnahmen im Rahmen der Familienzusammenführung handeln kann.

Haslauer spricht von „Erpressung“

Auch der Salzburger Landeshauptmann Wilfried Haslauer (ÖVP) unterstützt die Haltung von Kurz. Im Ö1-Morgenjournal betonte er, dass Österreich im Europavergleich bereits sehr viel getan habe. Würde man jetzt Menschen aus Moria aufnehmen, würden bald auch andere Flüchtlingslager brennen, so seine Argumentation: „Wenn ich mein eigenes Haus anzünde, damit der Nachbar mich aufnehmen muss, dann ist das eine Art von Erpressung, die man als Methode nicht akzeptieren kann.“

Kogler will weiterhin Gespräch mit der ÖVP suchen

Die Grünen betonen, sich in Gesprächen mit dem Koalitionspartner für eine Aufnahme von Menschen aus Moria einzusetzen. Kogler will weiterhin mit der ÖVP verhandeln. „Wenn das sogar der Herr Söder schafft und jetzt auch der niederländische Premier, der Herr Rutte, ja dann kann das Österreich auch schaffen“, sagte er im Ö1-Interview am Samstag.

Das Interview Koglers war noch vor dem Facebook-Statement von Kurz aufgezeichnet worden. Kogler verwies darauf, dass es auch in der ÖVP selbst Stimmen für eine Flüchtlingsaufnahme aus Moria gibt: „Wir organisieren uns ja nicht nur im grünen Bereich. Sondern es ist ja ganz offensichtlich, dass immer mehr Menschen beziehungsweise immer mehr Bürgermeister und Bürgermeisterinnen – etwa von ÖVP –, kirchliche Organisationen, viele Hilfsorganisationen, ebenfalls in diese Richtung arbeiten“, sagte er im für das Ö1-„Mittagsjournal“ aufgezeichneten Gespräch.

„Wir arbeiten in Gesprächen mit dem Koalitionspartner daran, da eine Lösung zu finden, dass wir im europäischen Geist und im europäischen Konzert mit den Ländern, die sich bereit erklären, dass wir damit dabei sind.“ Auf das Facebook-Statement von Kurz wollte man auf APA-Nachfrage im Büro Koglers am Samstagvormittag nicht näher eingehen und verwies auf die Worte Koglers im Ö1-Interview.

Breite Front für Aufnahme von Geflüchteten

Die Forderung nach Aufnahme von Menschen kommt außerdem von SPÖ und NEOS sowie von zahlreichen heimischen Hilfsorganisationen wie Ärzte ohne Grenzen, Caritas und Rotes Kreuz. Auch Bundespräsident Alexander Van der Bellen forderte indirekt die Aufnahme von Flüchtlingen aus Moria.

Freitagabend protestierten Hunderte in Wien unter dem Motto „Wir haben Platz“ für eine Aufnahme von Geflüchteten. Sie hielten Transparente wie „Moria ist Mord“ in Händen und schrien: „Say it loud, say it clear: Refugees are welcome here!“ Zu der Demonstration hatten linke Gruppierungen aufgerufen, die unter anderem die Schließung aller Flüchtlingslager forderten und Kritik an der „von Österreich mitgetragenen Abschottungspolitik der EU“ übten – mehr dazu in wien.ORF.at.

Asselborn: Missetäter Sebastian Kurz

Luxemburgs Außenminister Jean Asselborn machte indes Kurz persönlich für das Scheitern der europäischen Flüchtlingspolitik verantwortlich. „Für mich heißt der Missetäter Sebastian Kurz. Er hat diese erbärmliche Situation als Allererster zu verantworten“, sagte Asselborn dem deutschen Magazin „Der Spiegel“ laut einer Vorausmeldung vom Freitag.

„Ganz Europa ging Kurz’ Gerede auf den Leim, man müsse nur die Grenzen schließen, damit sich das Flüchtlingsproblem erledige“, so der sozialdemokratische Politiker. Zudem habe Österreich „ausgerechnet, als es die EU-Ratspräsidentschaft innehatte“, den UNO-Migrationspakt abgelehnt.

Zelte im zerstörten Lager von Moria
Reuters/Alkis Konstantinidis
Derzeit wird ein neues, provisorisches Lager auf einem Schießübungsfeld der Armee errichtet

Tausende verbrachten Nacht im Freien

Auf Lesbos verbrachten unterdessen Tausende die vierte Nacht im Freien. Die Errichtung eines provisorischen Lagers wurde fortgesetzt. Humanitäre und staatliche Organisationen versuchen Wasser und Lebensmittel zu verteilen, wie das griechische Fernsehen (ERT) zeigte. Das neue Lager wird auf einem Schießübungsfeld der griechischen Armee errichtet. Das Gelände liegt nur wenige Kilometer nördlich der Inselhauptstadt Mytilini an der Küste.

Nach Angaben des UNO-Flüchtlingshilfswerks (UNHCR) wurden 11.500 Menschen obdachlos, darunter 4.000 Kinder. Angesichts der chaotischen Lage warnte die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch am Samstag vor „wachsenden Spannungen zwischen Anwohnern, Asylsuchenden und der Polizei“. Das Lager Moria war bei Bränden am Dienstag- und Mittwochabend zerstört worden.