Werner Kogler und Sebastian Kurz
APA/Herbert Neubauer
Moria-Flüchtlinge

Koalition ohne gemeinsame Linie

In der Frage über die Aufnahme von Geflüchteten aus dem ausgebrannten Lager Moria auf der Insel Lesbos findet die Koalition weiter keine gemeinsame Linie: Während Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP) am Samstag betont hat, dass Österreich keine Menschen aufnehmen werde, will Vizekanzler Werner Kogler (Grüne) weiter darüber verhandeln. Er verweist auf andere europäische Länder und zahlreiche Appelle in Österreich.

Noch vor der Ausstrahlung des aufgezeichneten Gesprächs im Rahmen der Ö1-Interviewreihe „Im Journal zu Gast“ am Samstag untermauerte Kurz seine Ablehnung der Flüchtlingsaufnahme in einem in der Früh geposteten Facebook-Video. Auf Nachfrage wollte das Büro Koglers am Samstagvormittag darauf aber nicht näher eingehen und verwies auf das Interview.

Kogler kündigte darin weitere Gespräche an und betonte, dass es auch in der ÖVP selbst Stimmen für eine Flüchtlingsaufnahme aus Moria gebe: „Wir organisieren uns ja nicht nur im grünen Bereich. Sondern es ist ja ganz offensichtlich, dass immer mehr Menschen beziehungsweise immer mehr Bürgermeister und Bürgermeisterinnen – etwa von ÖVP –, kirchliche Organisationen, viele Hilfsorganisationen, ebenfalls in diese Richtung arbeiten“, sagte er im Gespräch.

Kogler will Lösung „im europäischen Geist“

Man arbeite in Gesprächen mit dem Koalitionspartner an einer Lösung „im europäischen Geist und im europäischen Konzert“ daran, dass man ebenfalls Flüchtlinge aufnehmen werde. „Wenn das sogar der Herr Söder schafft und jetzt auch der niederländische Premier, der Herr (Mark) Rutte, ja dann kann das Österreich auch schaffen“, so Kogler.

Auf europäischer Ebene gibt es Zusagen zur Aufnahme von Flüchtlingen: Nach Angaben des deutschen Innenministers Horst Seehofer (CSU) beteiligen sich neben Deutschland acht weitere EU-Staaten und die Schweiz an der Aufnahme von 400 unbegleiteten Minderjährigen. Man sei zudem mit weiteren Ländern im Gespräch, wie Seehofer in Berlin sagte. Mit Verweis auf die Regierungsbeteiligung der Grünen zeigte sich Seehofer indes „überrascht“, dass Österreich keine Zusage gemacht habe.

Kurz kann Aufnahme „nicht mit Gewissen vereinbaren“

Kurz warnte in seinem Video hingegen vor einer Wiederholung der Flüchtlingskrise des Jahres 2015. „Dieses menschenunwürdige System aus 2015, das kann ich mit meinem Gewissen nicht vereinbaren.“ Vielmehr werde man „vor Ort helfen, damit eine menschenwürdige Versorgung sichergestellt ist“, sagte Kurz. „Dazu sind wir in Gesprächen mit dem Koalitionspartner.“

„Auf europäischer Ebene werden wir uns für einen ganzheitlichen Ansatz einsetzen. Was wir nicht brauchen, ist Symbolpolitik“, sagte er in offenkundiger Anspielung auf die deutsch-französische Initiative zur Aufnahme von Kindern und Jugendlichen aus Moria. Es brauche vielmehr „echte nachhaltige Unterstützung für betroffene Gebiete, eine wirtschaftliche Perspektive für den afrikanischen Kontinent und auch einen effektiven Schutz unserer Außengrenzen“, sagte er.

Es gehe bei der Frage über die Aufnahme von Menschen nicht nur um Moria, sondern auch um andere Orte in der Welt, die nicht im Scheinwerfergebiet der Medien sind, so Kurz, der eingangs von seinen Besuchen in Flüchtlingslagern etwa im Irak oder Somaliland und seiner Betroffenheit über die dortigen Zustände berichtete.

„Schreckliche Bilder am Bahnhof in Budapest“

Es seien die „schrecklichen Bilder am Bahnhof in Budapest“ im Sommer 2015 gewesen, die dazu geführt hätten, „dass die europäische Politik dem Druck nachgegeben hat und die Grenzen geöffnet hat“, sagte Kurz. Daraufhin hätten sich zunächst Tausende, dann Zehntausende und am Ende eine Million auf den Weg gemacht. Schlepper hätten Unsummen verdient, unzählige Menschen seien im Mittelmeer ertrunken, wiederholte Kurz seine seit fünf Jahren unveränderte Argumentation, von der er offenbar auch unter wachsendem innenpolitischem Druck nicht abrücken möchte.

Flüchtlinge übernachten auf einer Tankstelle in Moria
Reuters/Alkis Konstantinidis
Tausende Menschen, darunter viele Kinder, mussten aus dem niedergebrannten Lager fliehen

Kurz wandte sich in dem siebenminütigen Clip auch gegen den Eindruck, dass Österreich nichts für Flüchtlinge tue. „Allein in diesem Jahr hat Österreich 3.700 Kinder aufgenommen. Das sind rund 100 Kinder pro Woche, die einen positiven Asylbescheid bekommen haben und hier in Österreich Sicherheit gefunden haben.“ Kurz sprach nicht aus, dass es sich dabei aufgrund der geschlossenen Grenzen praktisch ausschließlich um Aufnahmen im Rahmen der Familienzusammenführung handeln kann.

Kurz bleibt bei Linie

ÖVP-Bundeskanzler Sebastian Kurz verweist auf die Flüchtlingskrise vor fünf Jahren und betont, dass er eine Wiederholung mit seinem Gewissen nicht vereinbaren könne. Die Grünen hingegen sprechen sich weiter für die Aufnahme von Flüchtlingen aus Moria aus.

Am Samstagnachmittag strich das ÖVP-geführte Innenministerium noch einmal hervor, dass in diesem Jahr bisher mehr als 700 unbegleitete minderjährige Asylwerber in die Grundversorgung aufgenommen worden seien. Insgesamt wurden laut den aktuellsten Ministeriumsdaten von Jänner bis August dieses Jahres rund 7.800 Schutzgewährungen (entweder Asylstatus oder subsidiärer Schutz) erteilt, darunter rund 5.070 Frauen und Kinder.

Rund 170 unbegleitete minderjährige Flüchtlinge befinden sich derzeit in Bundesbetreuung und können auf die Länder aufgeteilt werden, hieß es aus dem Innenressort. Bei den Daten sind bereits die August-Zahlen enthalten. Mit Ende Juli waren es laut der bereits offiziell vorliegenden Juli-Asylstatistik noch 577 Minderjährige. Zum Vergleich: Im Vorjahr waren es im selben Zeitraum 441 Asylanträge von unbegleiteten Minderjährigen. Im Rekordjahr 2015 wurden in den ersten sieben Monaten 4.085 Asylansuchen von unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen gestellt, im gesamten Jahr 8.277.

Kritik von allen Oppositionsparteien

SPÖ, FPÖ und NEOS übten scharfe Kritik an der Haltung von Kurz. „Leben zu retten ist niemals Symbolpolitik“, schrieb SPÖ-Chefin Pamela Rendi-Wagner unterdessen auf dem Kurznachrichtendienst Twitter in Richtung Kurz. „Denn ‚Wer ein Menschenleben rettet, dem wird es angerechnet, als würde er die ganze Welt retten …‘ (Talmud) – Wer nicht hilft, macht sich mitschuldig. An dieser Wahrheit ändern auch Ihre Belehrungen nichts“, so die Vorsitzende.

Der stellvertretende SPÖ-Klubchef Jörg Leichtfried kündigte die Einbringung eines entsprechenden parlamentarischen Antrags an: „Mit ihrem Stimmverhalten werden die grünen Abgeordneten zeigen, wie es um ihre Werte tatsächlich steht, wenn es darum geht, Kinder vor Not und Elend zu schützen.“

Auch NEOS-Chefin Beate Meinl-Reisinger sprach sich auf Twitter einmal mehr für die Aufnahme von Kindern und Familien aus: „Wir bleiben dabei. Wir holen Familien mit kleinen Kindern aus Moria raus. Jetzt. Wir schaffen damit für diese einzelnen Menschen eine Perspektive und ein menschenwürdiges Leben. Das hilft nicht der ganzen Welt, aber der ganzen Welt dieser Kinder, Eltern.“

Die FPÖ will die ÖVP hingegen auf ihre harte Haltung abtesten: „Wir werden mit der ÖVP den Lackmustest machen und im Parlament die entsprechenden Anträge einbringen. Ich bin gespannt, wie die ÖVP dann tatsächlich abstimmt“, sagte Klubobmann Herbert Kickl via Aussendung. „Kanzler Kurz ist nicht ehrlich, er spricht mit gespaltener Zunge“, meinte der Ex-Innenminister. Man könne sich sicher sein, dass Kurz „augenzwinkernd im Hinterzimmer mit Angela Merkel und Ursula von der Leyen, mit seinen CDU-Freunden in Berlin und Brüssel schon das genaue Gegenteil einer restriktiven Asylpolitik ausgemacht hat“, so der FPÖ-Mandatar.

Ärzte ohne Grenze: Situation eskaliert komplett

Die Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen warnte unterdessen vor einer dramatischen Lage auf Lesbos. „In diesem Augenblick, während Österreich über die Worte des Kanzlers zur Moria-Katastrophe diskutiert, eskaliert die Situation auf Lesbos komplett“, sagte der humanitäre Berater Marcus Bachmann am Samstag in einer Aussendung. „Unsere Teams vor Ort berichten von Familien mit Kleinkindern, die in brütender Hitze auf dem nackten Asphalt ausharren, ohne Zelte, Decken, Nahrung oder Wasser und medizinische Hilfe. Tausende verzweifelte Menschen, mitten in Europa, ohne Hilfe und ohne jede Aussicht darauf“, so Bachmann.

Die medizinischen Teams der Ärzte ohne Grenzen würden zwar Erste Hilfe leisten. „Aber es ist nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Die Menschen müssen evakuiert werden, zuallererst unbegleitete Minderjährige, Familien mit Kindern und besonders schutzbedürftige Personen. Auch Österreich ist hier gefragt, denn Griechenland ist ganz offensichtlich überfordert.“

Asselborn: Missetäter Sebastian Kurz

Luxemburgs Außenminister Jean Asselborn hatte bereits am Freitag Kurz persönlich für das Scheitern der europäischen Flüchtlingspolitik verantwortlich. „Für mich heißt der Missetäter Sebastian Kurz. Er hat diese erbärmliche Situation als Allererster zu verantworten“, sagte Asselborn dem deutschen Magazin „Der Spiegel“.

„Ganz Europa ging Kurz’ Gerede auf den Leim, man müsse nur die Grenzen schließen, damit sich das Flüchtlingsproblem erledige“, so der sozialdemokratische Politiker. Zudem habe Österreich „ausgerechnet, als es die EU-Ratspräsidentschaft innehatte“, den UNO-Migrationspakt abgelehnt. Die ÖVP wies die Kritik Asselborns ebenso scharf zurück. Der Außenpolitik- und Sicherheitssprecher der ÖVP im Europaparlament, Lukas Mandl, sprach von einem Vorwurf des „Österreich-Bashings“.