Flüchtlinge auf der Insel Lesbos werden mit Essenspaketen versorgt.
APA/AFP/Louisa Gouliamaki
Regierung zu Moria-Flüchtlingen

„Soforthilfe“ vor Ort, keine Aufnahmen

Vier Tage nach dem Großbrand, der das Flüchtlingslager Moria auf Lesbos zerstört hat, bleibt die Situation auf der Insel angespannt. Laut dem öffentlich-rechtlichen griechischen Radio bezogen am Samstag die ersten Geflüchteten ein provisorisches Zeltlager – unter Protest, auch von Anrainern. Doch Tausende sind weiterhin obdachlos. Die Bundesregierung startete unterdessen eine „Soforthilfe“. Uneins ist die Regierung weiter zur Aufnahme von Geflüchteten.

Im Rahmen eines „Soforthilfepakets“ sollen nächste Woche vom Innenministerium 400 vollausgestattete Unterkünfte für die Betroffenen nach Griechenland geschickt werden. Der Transport der Hilfsunterkünfte (ausgestattet mit Heizungen, Betten, Decken etc.) für 2.000 Personen inklusive Hygienepaketen und sonstigen Hilfsgütern soll voraussichtlich mit zwei großen Frachtflugzeugen nächste Woche von Wien nach Lesbos erfolgen.

Das gaben Samstagabend Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP) und Vizekanzler Werner Kogler (Grüne) in einem gemeinsamen schriftlichen Statement an. Weiters werden ein Arzt und zehn Sanitäter vom Bundesheer für Griechenland zur Verfügung stehen, so der Plan.

50 Mio. Euro für Auslandskatastrophenfonds

Darüber hinaus „und angesichts der humanitären Krisen in vielen Teilen der Welt, auch aufgrund der Corona-Pandemie“, wird die Regierung den Auslandskatastrophenfonds von 25 auf 50 Mio. Euro verdoppeln, beginnend mit 2020. Bis Ende der Legislaturperiode soll dieser auf insgesamt 60 Mio. Euro gesteigert werden. Damit werde der Auslandskatastrophenfonds gegenüber 2019 versechsfacht, so die gemeinsame Erklärung.

Flüchtlinge reagieren auf das von der Polizei eingesetzte Tränengas.
Reuters/Alkis Konstantinidis
Die Zustände auf Lesbos sind unmenschlich, eine Lösung ist nicht in Sicht

Die Basisförderung für das UNO-Flüchtlingshilfswerk (UNHCR) werde dabei vervierfacht. Um der humanitären Hilfe in der Regierung zukünftig „noch mehr Gewicht zu verleihen“, werden in Zukunft den Vorschlag über die Verwendung der Mittel Kanzler und Vizekanzler gemeinsam mit dem Außenminister in den Ministerrat einbringen.

Kogler will sich weiter für Aufnahmen einsetzen

Kogler erklärte, die Bilder aus Moria hätten „uns alle tief getroffen“. „Wir sind als politisch Verantwortliche gefordert, hier unmittelbar und umfassend zu helfen. Mit der Verdoppelung der Mittel für die Auslandskatastrophenhilfe stellen wir die humanitäre Hilfe Österreichs langfristig auf neue Beine“, so der Grünen-Chef. „Die direkte Verantwortung von Bundeskanzler und Vizekanzler sind dafür auch ein deutliches Zeichen.“

Bild zeigt das abgebrannte Flüchtlingslager auf der Insel Lesbos.
AP/Panagiotis Balaskas
Das abgebrannte Lager Moria

Der Vizekanzler betonte, dass er sich weiterhin für eine Aufnahme von Flüchtlingen einsetzen werde: „Die unmittelbare Hilfe in Moria ist ein erster Schritt. Als Grüne werden wir uns weiterhin mit den Kirchen, den Hilfsorganisationen und vielen Bürgermeistern dafür einsetzen, dass in einer gemeinsamen europäischen Solidaritätsaktion Menschen auch in Österreich aufgenommen werden“, wiederholte auch er seinen Standpunkt.

Lösung „im europäischen Geist“

Man arbeite in Gesprächen mit dem Koalitionspartner an einer Lösung „im europäischen Geist und im europäischen Konzert“ daran, dass man ebenfalls Flüchtlinge aufnehmen werde, sagte Kogler zuvor schon im Ö1-Mittagsjournal. „Wenn das sogar der Herr Söder schafft und jetzt auch der niederländische Premier, der Herr Rutte, ja dann kann das Österreich auch schaffen“, so Kogler.

Nehammer zitiert griechischen Minister

Innenminister Karl Nehammer (ÖVP) hat eigenen Angaben zufolge am späten Samstagabend mit dem griechischen Migrationsminister Notis Mitarakis telefoniert und diesem Unterstützung zugesichert. „Es ist unsere absolute Pflicht, jetzt vor Ort zu helfen und die Lebensbedingungen im Camp Moria zu verbessern“, so Nehammer in einer Stellungnahme gegenüber der APA. Mitarakis habe Österreich in dem Telefonat für seine Solidarität und Unterstützung gedankt, sagte Nehammer.

Zudem habe der griechische Minister von Protesten von Migranten berichtet, die zu Ausschreitungen und Gewalt gegenüber Polizisten geführt hätten. Die Migranten hätten Steine gegen Einsatzkräfte geworfen und gefordert, nach Deutschland zu kommen, so Nehammer. Der griechische Minister habe Nehammer zufolge betont, sich nicht von den Migranten erpressen lassen zu wollen.

Auch Verteidigungsministerin Klaudia Tanner (ÖVP) bot am Sonntag abermals den griechischen Behörden Unterstützung im Bereich des medizinischen Personals an. Aktuell werden ein Arzt und zehn Sanitäter für einen Einsatz in Lesbos bereitgehalten. „Sollten die griechischen Behörden die Unterstützung anfordern, so könnten sie Mitte kommender Woche in den Einsatzraum verlegen“, so Tanner.

Kurz warnt vor Wiederholung der Flüchtlingskrise

Samstagfrüh hatte Kurz in einer Videobotschaft auf Facebook klargestellt, dass er keine Flüchtlinge aus dem abgebrannten Flüchtlingslager aufnehmen will. Er warnte in dem Video vor einer Wiederholung der Flüchtlingskrise des Jahres 2015. „Dieses menschenunwürdige System aus 2015, das kann ich mit meinem Gewissen nicht vereinbaren.“

„Auf europäischer Ebene werden wir uns für einen ganzheitlichen Ansatz einsetzen. Was wir nicht brauchen, ist Symbolpolitik“, sagte er in offenkundiger Anspielung auf die deutsch-französische Initiative zur Aufnahme von Kindern und Jugendlichen aus Moria.

„Schreckliche Bilder am Bahnhof in Budapest“

Es seien die „schrecklichen Bilder am Bahnhof in Budapest“ im Sommer 2015 gewesen, die dazu geführt hätten, „dass die europäische Politik dem Druck nachgegeben hat und die Grenzen geöffnet hat“, sagte Kurz. Daraufhin hätten sich zunächst Tausende, dann Zehntausende und am Ende eine Million auf den Weg gemacht. Schlepper hätten Unsummen verdient, unzählige Menschen seien im Mittelmeer ertrunken, wiederholte Kurz seine seit fünf Jahren unveränderte Argumentation, von der er offenbar auch unter wachsendem innenpolitischem Druck nicht abrücken möchte.

Flüchtlinge übernachten auf einer Tankstelle in Moria
Reuters/Alkis Konstantinidis
Tausende Menschen, darunter viele Kinder, mussten aus dem niedergebrannten Lager fliehen

In dem schriftlichen Statement betonte Kurz, dass Österreich bei der Aufnahme von Flüchtlingen schon bisher „extrem viel geleistet hat“. „Allein im Jahr 2020 haben wir bereits 3.700 Kinder aufgenommen, das sind über 100 Kinder pro Woche. Wenn jetzt andere sich dafür rühmen vier, zwölf oder 100 Kinder aufzunehmen, dann ist das im Vergleich zu dem, was Österreich ständig leistet, reine Symbolpolitik“, wiederholte er seine schon zuvor geäußerte Meinung.

„Wir haben die christlich-soziale Verantwortung, den Ärmsten der Armen vor Ort zu helfen, in Griechenland wie auch in vielen anderen Staaten dieser Welt“, so Kurz in dem schriftlichen Statement. „Dieser Verantwortung kommen wir nach und leisten massiv Hilfe vor Ort, indem wir die Mittel des AKF auf 50 Millionen Euro verdoppeln. Damit werden wir die Lebensbedingungen der Migranten, insbesondere für Frauen und Kinder, in Griechenland verbessern und arme Länder bei der Bewältigung der Corona-Pandemie unterstützen.“

Kritik von allen Oppositionsparteien

SPÖ, FPÖ und NEOS übten scharfe Kritik an der Haltung von Kurz. „Leben zu retten ist niemals Symbolpolitik“, schrieb SPÖ-Chefin Pamela Rendi-Wagner unterdessen auf dem Kurznachrichtendienst Twitter in Richtung Kurz. „Denn ‚Wer ein Menschenleben rettet, dem wird es angerechnet, als würde er die ganze Welt retten …‘ (Talmud) – Wer nicht hilft, macht sich mitschuldig. An dieser Wahrheit ändern auch Ihre Belehrungen nichts“, so die Vorsitzende.

Der stellvertretende SPÖ-Klubchef Jörg Leichtfried kündigte die Einbringung eines entsprechenden parlamentarischen Antrags an: „Mit ihrem Stimmverhalten werden die grünen Abgeordneten zeigen, wie es um ihre Werte tatsächlich steht, wenn es darum geht, Kinder vor Not und Elend zu schützen.“

Meinl-Reisinger: „Kurz schürt Ängste“

Kritik kam auch von NEOS-Chefin Beate Meinl-Reisinger: „Kurz schürt Ängste und warnt vor einem zweiten 2015. Er vergleicht Dinge, die nicht vergleichbar sind“, schrieb sie ebenfalls auf Twitter. Es würden bereits so viele Länder an einer „echten europäischen Lösung“ arbeiten, „aber Kurz bleibt immer noch bei seinem Kurs: Helfe ich 100, muss ich danach gleich wieder die ganze Welt aufnehmen. Das ist Schwachsinn. Und das will niemand.“

Die FPÖ will die ÖVP hingegen auf ihre harte Haltung abtesten: „Wir werden mit der ÖVP den Lackmustest machen und im Parlament die entsprechenden Anträge einbringen. Ich bin gespannt, wie die ÖVP dann tatsächlich abstimmt“, sagte Klubobmann Herbert Kickl via Aussendung. „Kanzler Kurz ist nicht ehrlich, er spricht mit gespaltener Zunge“, meinte der Ex-Innenminister. Man könne sich sicher sein, dass Kurz „augenzwinkernd im Hinterzimmer mit Angela Merkel und Ursula von der Leyen, mit seinen CDU-Freunden in Berlin und Brüssel schon das genaue Gegenteil einer restriktiven Asylpolitik ausgemacht hat“, so der FPÖ-Mandatar.

Ärzte ohne Grenze: Situation eskaliert komplett

Die Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen warnte unterdessen vor einer dramatischen Lage auf Lesbos. „In diesem Augenblick, während Österreich über die Worte des Kanzlers zur Moria-Katastrophe diskutiert, eskaliert die Situation auf Lesbos komplett“, sagte der humanitäre Berater Marcus Bachmann am Samstag in einer Aussendung. „Unsere Teams vor Ort berichten von Familien mit Kleinkindern, die in brütender Hitze auf dem nackten Asphalt ausharren, ohne Zelte, Decken, Nahrung oder Wasser und medizinische Hilfe. Tausende verzweifelte Menschen, mitten in Europa, ohne Hilfe und ohne jede Aussicht darauf“, so Bachmann.

Die medizinischen Teams der Ärzte ohne Grenzen würden zwar Erste Hilfe leisten. „Aber es ist nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Die Menschen müssen evakuiert werden, zuallererst unbegleitete Minderjährige, Familien mit Kindern und besonders schutzbedürftige Personen. Auch Österreich ist hier gefragt, denn Griechenland ist ganz offensichtlich überfordert.“

Asselborn: Missetäter Sebastian Kurz

Luxemburgs Außenminister Jean Asselborn hatte bereits am Freitag Kurz persönlich für das Scheitern der europäischen Flüchtlingspolitik verantwortlich. „Für mich heißt der Missetäter Sebastian Kurz. Er hat diese erbärmliche Situation als Allererster zu verantworten“, sagte Asselborn dem deutschen Magazin „Der Spiegel“.

„Ganz Europa ging Kurz’ Gerede auf den Leim, man müsse nur die Grenzen schließen, damit sich das Flüchtlingsproblem erledige“, so der sozialdemokratische Politiker. Zudem habe Österreich „ausgerechnet, als es die EU-Ratspräsidentschaft innehatte“, den UNO-Migrationspakt abgelehnt. Die ÖVP wies die Kritik Asselborns ebenso scharf zurück. Der Außenpolitik- und Sicherheitssprecher der ÖVP im Europaparlament, Lukas Mandl, sprach von einem Vorwurf des „Österreich-Bashings“.