Gernot Blümel, Sebastian Kurz und Werner Kogler
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„Bashing“

Das ÖVP-Kalkül für die Wien-Wahl

Vor der Wien-Wahl am 11. Oktober lässt die ÖVP – insbesondere auch auf Bundesebene – praktisch keinen Tag ohne scharfe Kritik an der rot-grünen Landesregierung vergehen. Doch bei einer Landtagswahl das eigene Land ständig schlechtreden – kann man damit punkten?

Die Strategie der ÖVP fuße auf einem klaren Kalkül, sind sich die Politologin Kathrin Stainer-Hämmerle und ihr Kollege Peter Filzmaier gegenüber ORF.at einig. Etwas droht ihre Wirksamkeit aber zu bremsen. Wahlkämpfen ist – aus Sicht der Opposition – immer das Erzählen einer einfachen Geschichte: Die Regierenden sind an der aktuellen – natürlich schlechten – Lage schuld. Und: Daher braucht es eine neue Kraft, die es besser macht.

In Wien hat sich für die ÖVP nach der Absetzbewegung vieler Wählerinnen und Wähler vom Ex-Koalitionspartner FPÖ aufgrund des „Ibiza-Skandals“ unerwartet eine außergewöhnliche Chance eröffnet. In Wien zuletzt trotz traditioneller Hochburgen wie 1. Bezirk, Döbling und Hietzing auf nur neun Prozent zur Kleinpartei geschrumpft, bietet sich die Möglichkeit zu einem echten Jojo-Effekt. Umfragen sehen die Partei bei gut 20 Prozent. ÖVP-Chef Kanzler Sebastian Kurz legte die Latte niedriger: Platz zwei und 15 Prozent.

Fischen im FPÖ-Pool

Genau auf die FPÖ-Klientel hat es die ÖVP laut Stainer-Hämmerle und Filzmaier natürlich abgesehen. Das sei „ganz offensichtlich“, immerhin gebe es hier mehr als 100.000 Stimmen zu holen. Die Volkspartei wolle diese Stimmen von der FPÖ und dafür müsse sie eine Wechselstimmung erzeugen. Das gehe am besten, indem man die Unzufriedenheit anspreche, so Stainer-Hämmerle. Filzmaier sieht das ganz ähnlich: Die ehemaligen freiheitlichen Wähler, die von der Politik enttäuscht sind, wolle die ÖVP vom Abgang ins Nichtwählerlager abhalten. Das gelinge aber nur „mit emotionalisierender Wien-Kritik“.

Michael Ludwig und Peter Hacker
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SPÖ-Bürgermeister Michael Ludwig und Stadtrat Peter Hacker werfen der ÖVP gezieltes „Wien-Bashing“ vor

Klare Empfindungen in Zielgruppe

Die ÖVP-Kritik, egal ob in Sachen Wirtschaft, Jobmarkt, Wohnsituation, Integration oder Sicherheit, läuft darauf hinaus, dass die Lebensqualität in Wien sinke. Laut Filzmaier zeigten ORF-Wahltagsbefragungen, dass vor allem Ex-FPÖ-Wählerinnen und -Wähler, unter ihnen viele Wenigverdienende, das „wirklich so empfinden“. Diese hätten 2015 bei der letzten Wien-Wahl zu drei Viertel der Aussage „Wien hat abgewirtschaftet und an Lebensqualität verloren“ zugestimmt. Mit Umfragen nachweisbar sei, dass lediglich SPÖ- und Grünwähler die Lebensqualität in Wien als hoch empfinden. Die Hauptzielgruppe der ÖVP teile dagegen „ganz klar das Wien-Bashing“, so Filzmaier.

„Vergleichsweise wenig zu verlieren“

„Paradox“ sei nur, „dass die ÖVP als Partei mit traditionell gutbürgerlichen Besserverdienern es nun gar so offensiv aufgreift.“ Die damit drohenden Verluste in Richtung NEOS, Grüne und SPÖ von Bürgerlich-Liberalen seien aber rechnerisch viel niedriger als die winkenden Zugewinne. Und viele dieser traditionellen Wähler habe die ÖVP schon verloren. Da gebe es nur noch „vergleichsweise wenig zu verlieren“, so Filzmaier.

Neu für Stainer-Hämmerle an der ÖVP-Kampagne sei, dass sie sich durch alle Ebenen ziehe – vom Bundeskanzler über den Innenminister und andere ÖVP-Regierungsmitglieder abwärts. Die Strategie sei sehr „holistisch“, man könnte auch sagen „professionell“.

Gernot Blümel,  Rudolf Anschober und Karl Nehammer
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ÖVP-Minister attackieren häufig Wien, die Grünen suchen eine Balance zwischen den zwei unterschiedlichen Koalitionspartnern

„Schon etwas zu viel“

Allerdings sei das in dieser Dichte „schon etwas zu viel“, und das könnte die Wirksamkeit bremsen, so die Politologin. Mittlerweile sei die massierte Kritik – die SPÖ spricht seit Monaten von einem „Wien-Bashing“ der Volkspartei – auch von Medien als Thema aufgegriffen worden. Diese Form der Kampagne sei aber wirksamer, wenn sie nebenhergehe, es ein „schleichendes, fast unbewusstes Schlechtmachen“ sei.

Wird das überzogen, bestehe „die Gefahr, dass es als Hickhack erscheint“ und die Zielgruppe „ins Nichtwählerlager treibt“. Die SPÖ versuche, inhaltlich gegenzusteuern, aber insbesondere bei Wechselwählerinnen und -wählern sei die Stimmungslage entscheidend, nicht die Fakten, so Stainer-Hämmerle, die die ÖVP-Kritik an Wien als „unfaires Spiel“ bezeichnete. Immerhin könne man Wien aufgrund seiner Größe nicht mit St. Pölten oder anderen österreichischen Städten vergleichen, sondern müsse Vergleiche mit Berlin und anderen europäischen Großstädten ziehen.

Kaum Bumeranggefahr

Stainer-Hämmerle und Filzmaier sehen kein Problem darin, dass das „Wien-Bashing“ zu einem Bumerang für die ÖVP werden könnte. Filzmaier zeigt sich überzeugt, dass die Volkspartei ohnehin eher von einer Fortsetzung von Rot-Grün ausgeht. Das Argument, nicht staatstragend zu sein und dadurch eine Koalitionsbeteiligung zu erschweren, zähle daher für die ÖVP wahrscheinlich wenig. Und laut Stainer-Hämmerle gebe es im Ernstfall, sollte ÖVP-Spitzenkandidat Gernot Blümel eine persönliche Basis mit SPÖ-Bürgermeister Michael Ludwig durch Attacken im Wahlkampf wirklich vernichten, noch eine Hintertür: Blümel könnte in der Bundesregierung bleiben und jemand anderer in Wien koalieren.