Flüchtlingslager auf Lesbos
APA/AFP/Angelos Tzortzinis
Merkel-Seehofer-Plan

Aufnahme von 1.500 Geflüchteten aus Moria

Nach dem Brand im Flüchtlingslager Moria auf der griechischen Insel Lesbos sind über 12.000 Menschen obdachlos geworden. International wurde heftigst debattiert, welches Land Geflüchtete aus Moria aufnimmt. Während Österreich sich weiterhin weigert, Menschen aus Moria aufzunehmen, dürfte in Deutschland nun eine Entscheidung gefallen sein.

Die deutsche Kanzlerin Angela Merkel (CDU) und Innenminister Horst Seehofer (CSU) einigten sich nach Angaben der dpa darauf, zusätzlich rund 1.500 weitere Migranten von den griechischen Inseln aufzunehmen. Dabei handelt es sich offenbar mehrheitlich um Familien mit Kindern, die in Griechenland bereits als schutzbedürftig anerkannt wurden. Ob die SPD dem zustimmen wird, ist derzeit offen.

SPD-Vorsitzende Saskia Esken hatte gefordert, Deutschland müsse zusätzlich zu den bereits gemachten Hilfsangeboten mehrere tausend Geflüchtete aus Griechenland aufnehmen. Am Dienstag hieß es vonseiten der SPD, dass Gespräche zu einer „substanziellen Verabredung“ zur Aufnahme von Geflüchteten im Gange seien. SPD-Fraktionschef Rolf Mützenich zeigte sich zuversichtlich, dass sich die Union-SPD-Koalition bis Mittwoch einigen werde.

„Brauchen gemeinsames Regelwerk“

Deutschland hatte sich bereits vergangene Woche bereiterklärt, 100 bis 150 unbegleitete Minderjährige von der griechischen Insel Lesbos aufzunehmen. Frankreich und acht andere europäische Länder wollen ebenfalls Flüchtlinge aufnehmen. Schweden befindet sich noch in Warteposition. Migrationsminister Morgan Johansson verwies am Dienstag auf die Zuständigkeit der Einwanderungsbehörde.

Am Montag meldete sich diesbezüglich bereits die schwedische EU-Kommissarin Ylva Johansson im schwedischen Fernsehen zu Wort. Sie glaube, dass es letztlich einen europaweiten Kompromiss geben werde. Die aktuelle Situation zeige, dass es mehr denn je eine gemeinsame Migrationspolitik in der EU brauche. „Wir haben genug von Ad-hoc-Lösungen. Wir brauchen ein gemeinsames Regelwerk, und Schweden ist eines der Länder, die ein obligatorisches Solidaritätssystem unterstützen, an dem alle Länder teilnehmen und einen Beitrag leisten, wenn ein Land in einer exponierten Lage ist wie jetzt Griechenland“, so die EU-Kommissarin.

Asyl nur in neuem Lager

Die Aufnahme von Flüchtlingen in einem neuen provisorischen Zeltlager auf Lesbos kommt indes nur mühsam voran. Bis Dienstag waren rund 1.000 Menschen in das Camp Kara Tepe wenige Kilometer nördlich der Hauptortschaft der Insel, Mytilini, gegangen. Das Lager wurde bereits mit 5.000 Betten ausgestattet. 21 Menschen seien positiv auf das Coronavirus getestet worden, teilte das Ministerium mit. Sie seien isoliert worden. Mit Flugblättern in sieben Sprachen werden die Migranten jetzt informiert, dass es keinen anderen Weg für sie gibt, die Insel zu verlassen, als Asyl zu bekommen. Den Asylprozess könne man aber nur im neuen Lager durchlaufen.

Flüchtende auf der Straße in Lesbos
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Obdachlose Flüchtlinge stellen sich in der Nähe des Camps Kara Tepe für Lebensmittel an

Tausende Menschen weigerten sich auch am Dienstag, neu errichtete Behelfsunterkünfte zu beziehen. Stattdessen forderten sie erneut, dass sie die Insel verlassen dürfen. Viele verbrachten eine weitere Nacht außerhalb des Camps Kara Tepe am Straßenrand. „Niemand wird Lesbos verlassen, ohne vorher in dem Übergangslager gewesen zu sein“, sagte Bürgerschutzminister Michalis Chrysohoidis im Hörfunksender Skai. Am Wochenende hatte Ministerpräsident Kyriakos Mitsotakis gesagt, in jedem Fall werde auch ein dauerhaftes Auffanglager für Flüchtlinge auf Lesbos errichtet, das das zerstörte Lager Moria ersetzen solle.

Nach wie vor machen unter den geflüchteten Menschen Gerüchte die Runde, wer ins Lager gehe, werde eingesperrt wie in einem Gefängnis. Migranten, in ihrer Mehrheit Afghanen, deren Asylanträge abgelehnt worden seien, sähen dagegen in diesen chaotischen Zuständen die letzte Möglichkeit, doch noch zum Festland Griechenlands und danach nach Westeuropa gebracht zu werden, sagte ein Offizier der Küstenwache gegenüber der dpa am Dienstag.

Informationskampagne geplant

Der Hoffnung einiger Geflüchtete, mit den Bildern vom Elend der Menschen, die weltweit gezeigt werden, könnten nun alle zum griechischen Festland und danach nach Westeuropa gebracht werden, trat der stellvertretende Migrationsminister Giorgos Koumoutsakos entgegen: „Wer denkt, er könne zum Festland und dann nach Deutschland reisen, der soll es vergessen.“

Die griechischen Sicherheitskräfte bereiten nach Informationen örtlicher Medien in den nächsten Tagen eine umfangreiche Aktion vor, um alle Geflüchteten von den Straßen zu holen und ins Zeltlager zu bringen.

Mann geht durch das abgebrannte Camp in Moria
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Nach dem Brand in Moria: In Teilen des Camps sind nur noch Ruinen übrig

Sorge vor „Taktik von Moria“

Am Montag gingen zahlreiche Migranten erneut auf die Straßen von Lesbos und forderten, dass sie nach Westeuropa gebracht werden. Die überwiegend aus Afghanistan stammenden Demonstranten skandierten „Azadi! Azadi!“ (Freiheit! Freiheit!), berichtete ERT.

Grafik zeigt Daten zu minderjährigen Asylwerbern in der EU
Grafik: APA/ORF.at; Quelle: Eurostat

Der Asylbeauftragte des Migrationsministeriums, Manos Logothetis, warnte indes, dass der „Taktik von Moria“ bald andere Aufnahmezentren auf den Inseln Chios, Samos, Leros und Kos folgen könnten. Die Menschen müssten so schnell wie möglich in provisorischen Zeltlagern unterkommen, bis ein neues Aufnahmelager gebaut werde, erklärte Logothetis der griechischen Tageszeitung „Kathimerini“ (Montag-Ausgabe). „Alles andere würde bedeuten, dass alle bisher unternommenen Anstrengungen zur Begrenzung der Flüchtlingsströme und zur Entlastung der Inseln zunichte gemacht würden.“

Mutmaßliche Brandstifter festgenommen

Laut Minister Chrysohoidis nahmen griechische Sicherheitskräfte fünf mutmaßliche Brandstifter fest, die vergangene Woche das Lager auf Moria in Brand gesetzt haben sollen. „Die Brandstifter sind festgenommen. Es sind junge Migranten. Ein weiterer wird noch gesucht“, sagte der Minister im Sender ERT. Aus Kreisen der Polizei hieß es, die fünf mutmaßlichen Brandstifter seien Afghanen, deren Asylanträge abgelehnt worden waren.

Griechischer Premier fordert Europas Solidarität

Der konservative griechische Ministerpräsident Kyriakos Mitsotakis forderte mit Blick auf die Lage der Flüchtlinge in seinem Land europäische Solidarität ein. Nun sei es an der Zeit, diesen Geist in der Praxis auszudrücken, sagte Mitsotakis am Dienstag in Athen. Europa brauche eine gemeinsame Migrations-, Asyl- und Rückführungspolitik, forderte er.

Moria sei ein Relikt der Vergangenheit. Jetzt brauche es eine neue Einrichtung mit europäischer Unterstützung, so Mitsotakis. Der EU-Ratsvorsitzende Charles Michel bezeichnete das Thema Migration bei einem Besuch in der griechischen Hauptstadt als Herausforderung für die EU. Zudem betonte Michel die Notwendigkeit einer Reform des europäischen Asylsystems: „Wir müssen eine gerechte und starke Antwort zur Bekämpfung der Schlepper und ein neues Asylsystem entwickeln.“

Verwaltung mit EU möglich

Ärzte ohne Grenzen (MSF) übte indes scharfe Kritik an dem Wiederaufbau des Camps, das in den vergangenen Jahren wegen seiner katastrophalen Zustände immer wieder für Schlagzeilen sorgte. Es sei „illusorisch“ zu glauben, dass man durch den Bau eines neuen Camps die Probleme nachhaltig lösen könne, sagte Caroline Willemen, MSF-Einsatzleiterin auf Lesbos, im Gespräch mit der APA.

Im Gespräch ist derzeit, ein etwaiges neues Flüchtlingslager auf Lesbos unter gemeinsame Verwaltung von Griechenland und der EU-Kommission zu stellen. Man sei offen für eine gemeinsame Verwaltung, sagte ein Kommissionssprecher am Montag. „Die Idee wird weiter diskutiert.“ Die Kommission warte derzeit noch darauf, dass die griechische Regierung die Pläne für die künftige Unterbringung der Flüchtlinge konkretisiere.

Österreich unterstütze das Vorhaben, dass das neue Camp nicht nur von griechischen Behörden, sondern gemeinsam mit der Europäischen Kommission betrieben wird, hieß es in einer Stellungnahme des Bundeskanzleramtes für die APA.

Viertel der Anträge von Minderjährigen

Rund ein Viertel aller Asylanträge in der EU wird von Kindern und Jugendlichen unter 18 Jahren gestellt. 2019 stammten laut Eurostat über 192.000 Asylanträge von Minderjährigen. Mehr als 14.000 Asylanträge kamen von unbegleiteten Minderjährigen – das sind sieben Prozent jener Asylwerbenden, die noch nicht das 18. Lebensjahr vollendet haben, und rund fünf Prozent insgesamt.

EU-weit halbierte sich 2017 die Zahl der Anträge von unter 18-Jährigen nach einem rasanten Anstieg 2015 und 2016 (fast 380.000) und sank weiter im Jahr 2018. 2019 stieg sie nun erstmals wieder leicht an (192.145). In Österreich fand der Rückgang schon von 2015 (31.655) auf 2016 (17.365) statt. 2018 halbierte sich die Zahl der Asylanträge von Kindern und Jugendlichen hierzulande erneut auf 6.375. Mit 5.900 Anträgen von Minderjährigen setzte sich der Abwärtstrend 2019 in Österreich entgegen dem EU-Trend fort.