EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen bei einer Rede im EU-Parlament
Reuters/Yves Herman
Klimaziele und „Gesundheitsunion“

Von der Leyen sieht Krise als Chance

In ihrer ersten Rede zur Lage der EU hat Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen am Mittwoch ihre Ziele für das kommende Jahr vorgegeben. Im Europaparlament in Brüssel sagte sie, man müsse die Lehren aus der Coronavirus-Pandemie ziehen, und forderte unter anderem eine „europäische Gesundheitsunion“. Und sie formulierte ambitionierte Klimaziele: Schon 2030 sollen Treibhausgase deutlich stärker als bisher reduziert werden.

Die Coronavirus-Pandemie bildete den Rahmen für praktisch alle Punkte, die von der Leyen in ihrer „State of the Union“-Rede anschnitt. Die 40 Minuten, die für ihre Rede laut Europaparlament anberaumt waren, überschritt sie zwar deutlich, auf Englisch, Deutsch und Französisch gab sie in knapp 80 Minuten aber einen Ausblick auf die Themen, die die EU im kommenden Jahr wohl prägen werden.

Dementsprechend viel Platz nahm das Thema Gesundheit ein: Gleich zu Beginn dankte sie allen Ärztinnen und Ärzten, dem Pflegepersonal und Menschen, die in systemrelevanten Berufen während der Krise arbeiteten. „Ihre Empathie, ihr Mut und ihr Pflichtbewusstsein sind unsere Inspiration“, so von der Leyen in ihrem Eingangsstatement.

„Europäische Gesundheitsunion stärken“

„Die Menschen in Europa leiden noch immer, die Pandemie und die mit ihr verbundene Ungewissheit ist nicht vorbei.“ Ihre oberste Priorität sei es, über die Runden zu kommen und jenen zu helfen, die Hilfe brauchen. Man wisse, wie schnell Zahlen außer Kontrolle geraten können. Alle Erfolge in der Pandemie habe man „ohne volle Kompetenzen“ erreicht und daher müsse man eine „stärkere europäische Gesundheitsunion“ aufbauen.

Blick auf die Sitzung im EU-Parlament
Reuters/Yves Herman
Das Parlament in Brüssel war gut gefüllt – mit dem coronavirusbedingten Abstand

Später ging sie auch auf eine mögliche Impfung gegen das Coronavirus ein: Dabei reiche es nicht, einen Impfstoff zu finden. Man müsse es auch schaffen, den Bürgerinnen und Bürgern der EU und auch im Ausland Zugang zu verschaffen. „Impfstoff-Nationalismus gefährdet Leben“, so von der Leyen.

Recht auf Mindestlohn

Und: Die Pandemie habe die Grenzen der Arbeit aufgezeigt. Die Kommission wolle daher ein „Gerüst“ für einen Mindestlohn aufbauen. „Jeder und jede“ müsse Anspruch auf einen Mindestlohn haben – und zwar entweder über kollektivvertragliche Vereinbarungen oder eine gesetzliche Vorschreibung.

Wie erwartet nahm auch die Klimakrise eine wesentliche Rolle in von der Leyens Rede ein. Während die Pandemie vieles angehalten habe, habe sich „der Planet weiter aufgeheizt“, so die Kommissionspräsidentin. Man habe gesehen, wie sehr man sich nach Natur sehnt, nach Grünflächen und sauberer Luft für „mentale Gesundheit und physisches Wohlbefinden“.

Reduktion der Treibhausgase um 55 Prozent

Man wolle der erste klimaneutrale Kontinent im Jahr 2050 sein. Dafür müsse man schneller handeln als bisher: Nach Untersuchungen habe man sich dazu entschlossen, die Treibhausgase bis 2030 nicht nur um 40, sondern um 55 Prozent zu reduzieren. „Unsere Industrie schafft das und sie will das“, so von der Leyen, die sich auf einen Brief von über 100 Industriellen von Dienstag bezieht, der eine stärkere Reduktion der CO2-Emmissionen forderte.

Für die enormen nötigen Investitionen will von der Leyen das CoV-Wiederaufbauprogramm in Höhe von 750 Milliarden Euro nutzen. 30 Prozent dieser Summe, die die EU über gemeinsame Schulden finanzieren will, sollen aus „grünen Anleihen“ beschafft werden, kündigte die Kommissionschefin an.

Gebäude, aus denen heute 40 Prozent der Klimagasemissionen stammen, sollten künftig nicht mehr so viel Energie verschwenden. Künftig könnten sie mit kluger Technologie und Nutzung ökologischer Baustoffe wie Holz sogar CO2 aufnehmen. Nötig sei eine Renovierungswelle. „Deshalb werden wir ein neues europäisches Bauhaus errichten, einen Raum, in dem Architekten, Künstler, Studenten, Ingenieure und Designer gemeinsam und kreativ an diesem Ziel arbeiten“, so von der Leyen.

Europas digitales Jahrzehnt

Auch der Digitalisierung räumte von der Leyen viel Zeit ein – und auch hier kehrte sie die Auswirkungen des Coronavirus hervor, verwies darauf, dass die letzte Pandemie ohne Zugang zu digitalen Technologien komplett anders abgelaufen sei. Das kommende Jahrzehnt müsse Europas „Digital Decade“ sein, so von der Leyen. Dazu zählten auch das „Recht auf Privatsphäre“ und „freie Meinungsäußerung“ sowie „freier Datenfluss“ und Cybersicherheit.

EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen bei einer Rede im EU-Parlament
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Von der Leyen umriss ihre Ziele für das kommende Jahr in rund 80 Minuten

Von der Leyen verurteilt „Vergiftung“ Nawalnys

Im Verlauf ihrer Rede gab von der Leyen einen groben Überblick über andere Themen, angefangen von außenpolitischen Herausforderungen, etwa der Situation in Weißrussland: Die EU sei „auf der Seite der Menschen in Weißrussland“, so von der Leyen. Sie nahm auch auf den russischen Oppositionspolitiker Alexej Nawalny Bezug: „Die Vergiftung Nawalnys ist kein Einzelfall“, man habe derartige Muster in Georgien und der Ukraine gesehen. Diese Muster veränderten sich nicht, und „keine Pipeline wird etwas daran ändern“, so von der Leyen wohl im Hinblick auf die Pipeline „Nord Stream 2“.

Brexit: Chancen auf Deal schwinden

Auch der endgültige Abschied Großbritanniens aus der EU war Thema in von der Leyens Rede. „Mit jedem Tag schwinden die Chancen, dass wir doch noch rechtzeitig ein Abkommen erzielen“, so die Kommissionspräsidentin. Die Gespräche seien nicht so weit wie erhofft, und es bleibe nur noch sehr wenig Zeit. Von der Leyen protestierte gegen Pläne des britischen Premierministers Boris Johnson, Teile des bereits gültigen Brexit-Abkommens mit einem neuen britischen „Binnenmarktgesetz“ auszuhebeln.

Von der Leyen: Krise für Wandel nutzen

Im Europäischen Parlament in Brüssel hat EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen am Mittwoch ihre erste Rede zur Lage der Europäischen Union gehalten. Sie sieht die Krise als Chance für Veränderung.

Das Abkommen sei auch vom britischen Parlament ratifiziert. „Es kann nicht einseitig geändert oder missachtet oder ignoriert werden“, sagte von der Leyen. „Es geht hier um Recht, um Vertrauen und um guten Glauben.“ Vertrauen sei das Fundament jeder starken Partnerschaft.

„Leben auf dem Meer retten ist nicht optional“

Beim heiklen Migrationsthema, bei dem die Positionen unter den Mitgliedsstaaten weit auseinandergehen, appellierte sie, Differenzen hinter sich zu lassen. „Migration ist ein Thema, über das wir lange genug diskutiert haben“, so von der Leyen. „Wenn wir alle zu Kompromissen bereit sind – ohne unsere Prinzipien aufzugeben –, können wir eine Lösung finden“, so die Präsidentin.

Nach Jahren bitteren Streits unter den EU-Staaten will die EU-Kommission am Mittwoch kommender Woche neue Reformvorschläge vorlegen, über die EU-Staaten und Europaparlament dann verhandeln müssen. Darin werde ein „menschlicher und menschenwürdiger Ansatz“ verfolgt, sagte von der Leyen. Und: „Leben auf dem Meer retten ist nicht optional“, sagte sie in Hinblick auf die Seenotrettung.

Anti-Rassismus-Beauftragter angekündigt

Von der Leyen kündigte darüber hinaus einen EU-Beauftragten für den Kampf gegen Rassismus an. Damit solle das Thema „ganz oben auf unserer Agenda gehalten werden“. Brüssel werde gegen jegliche Art der Diskriminierung vorgehen, „egal ob wegen Rasse, Religion, Geschlecht oder Sexualität“. Die EU werde EU-Mittel dazu nutzen, unter anderem „um Diskriminierung etwa am Arbeitsplatz, auf der Wohnungssuche oder im Gesundheitssystem anzugehen“, sagte von der Leyen weiter. Es gehe darum, Rassismus in allen Bereichen der Gesellschaft zu bekämpfen.

„Lang lebe Europa“

Die Kommissionspräsidentin betonte auch die wichtige Rolle der Rechtsstaatlichkeit, die die Menschen vor den Mächtigen beschütze. Und sie verurteilte LGBTI-freie Zonen, also Orte, an denen sich keine schwulen und lesbischen Menschen aufhalten dürfen, wie in einigen polnischen Kommunen: „LGBTI-freie Zonen sind menschlichkeitsfreie Zonen und sie haben keinen Platz in der Union.“ Ihre Rede beendete sie nach 80 Minuten mit einem dreisprachigen „Lang lebe Europa“ – und Applaus aus dem Plenum.

Experte vermisst Details zu „Gesundheitsunion“

Der Chef des Brüsseler Thinktanks Centre for European Policy Studies (CEPS), Karel Lannoo, sagte gegenüber ORF.at, dass er etwa die „Gesundheitsunion“ für eine „interessante Idee“ halte, aber: Er hätte sich „mehr Details erwartet“. Das sei eigentlich Kompetenz der Mitgliedsstaaten. Er frage sich, wie die EU dieses Thema angehen werde.

Für die von der Kommissionspräsidentin vorgestellte digitale Agenda erwartet Lannoo „viele Probleme“, die man etwa bei den Coronavirus-Apps schon gesehen habe. Er stellte die Frage in den Raum, ob Europa in der Lage sei, eine eigene Cloud auf die Beine zu stellen – und warum die Privatwirtschaft das bisher nicht getan habe.

Was die außenpolitischen Vorhaben anbelangt, so habe er „Taten und nicht nur Worte“ erwartet, so Lannoo. Konkrete Sanktionen gegen Weißrusslands Staatschef Alexander Lukaschenko vermisst er ebenso wie eine „Verteidigung“ der territorialen Grenzen im Mittelmeer im Hinblick auf die angespannte Lage zwischen der Türkei und Zypern.