Eine Krankenschwester bereitet eine Impfdosis des russischen Coronavirus-Impfstoffes vor
APA/AFP/Natalia Kolesnikova
„Seltsame Muster“

Neue Zweifel an russischem CoV-Impfstoff

Der russische Coronavirus-Impfstoff „Sputnik V“ sorgt in der Wissenschaft für Skepsis. Im Eilverfahren wurde der Impfstoff für die breite Anwendung freigegeben, obwohl dieser bisher kaum in klinischen Studien erprobt ist. „Seltsame Muster“ in der russischen Impfstudie, die im medizinischen Fachblatt „The Lancet“ veröffentlicht wurden, lassen neue Zweifel an „Sputnik V“ aufkommen.

Das Serum gegen das Coronavirus war das weltweit erste, das für eine breite Anwendung in der Bevölkerung zugelassen wurde. Präsident Wladimir Putin sagte öffentlichkeitswirksam, dass eine seiner Töchter bereits geimpft wurde. Sie habe eine leicht erhöhte Temperatur entwickelt, „das war alles“. Russland habe nach weniger als zwei Monaten Tests an Menschen die behördliche Genehmigung erteilt, das sei als Zeichen für Russlands wissenschaftliche Macht zu werten, sagte der russische Staatschef im August.

Um die Glaubwürdigkeit in der Fachwelt zu erhöhen, hatte das russische Forschungsteam seine Studie über die Wirkung des Impfstoffs Anfang September in „The Lancet“ veröffentlicht. Jedoch ist der Artikel alles andere als positiv aufgenommen worden. Wegen der vielen offenen Fragen hat die Zeitschrift die Autoren der russischen Impfstudie zu einer Stellungnahme aufgerufen. Sie seien eingeladen worden, auf offene Fragen zu antworten, sagte eine Sprecherin der Fachzeitschrift. „Wir verfolgen die Situation weiterhin genau.“

Impfdosis des russischen Coronavirus-Impfstoffes
APA/AFP/Natalia Kolesnikova
Binnen weniger Wochen wurde der Impfstoff „Sputnik V“ zugelassen

Originaldaten gefordert

Hintergrund ist ein offener Brief („Note of Concern“) von rund 40 internationalen Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen. Sie äußern darin erhebliche Zweifel an der Studie. Nach ihrer Ansicht wirft „die Darstellung der Daten einige Bedenken auf“. Die Forscher um den italienischen Molekularbiologen Enrico Bucci fordern von Moskau den Zugriff auf die Originaldaten für eine vollständige Untersuchung. Die Erwartungen der Bevölkerung an einem wirksamen Impfstoff seien verständlicherweise hoch, hieß es zur Begründung.

Bucci verwies zum Beispiel auf Ergebnisse, die die Bildung von Antikörpern beschreiben. Dabei gebe es gleiche Werte für verschiedene Gruppen von Patienten und Patientinnen. So viele Duplikate seien „extrem unwahrscheinlich“, schreibt er im offenen Brief. Zudem sei undurchsichtig, wie Vergleichsgruppen ausgewählt und wann deren Blut nach der Impfung und der Auffrischung untersucht wurde. Weiters würden notwendige Angaben zu den Freiwilligen fehlen, die von Bedeutung für die Interpretation der Ergebnisse seien.

„Die Daten enthalten sehr seltsame Muster“, sagte Bucci dem Portal „Moscow Times“. „Es ist so, als würde man einen Würfel werfen und mehrmals genau dieselbe Zahlenfolge erhalten.“ Die russische Staatsagentur TASS meldete, dass die Entwickler des Impfstoffs in Moskau bereits Antworten auf Fragen an das Blatt geschickt hätten, die „für ihre westlichen Kollegen von Interesse waren“. Nach russischer Darstellung erzeugt der Impfstoff Antikörper. Er sei auch frei von schwerwiegenden Nebenwirkungen.

„Sofort unsere Stimme erheben“

Bei der Veröffentlichung im „The Lancet“ handelt es sich um eine Studie der Phase I/II. Es sind laut Autoren bei Teilnehmern – insgesamt waren es 76 – Antikörper gegen das Virus nachgewiesen worden. Erst vor wenigen Tagen meldete Russland, dass man die Phase III gestartet habe. Mehr als 35.000 Moskauer hätten sich bereits als Freiwillige gemeldet – vor dieser Phase wurde der Impfstoff bereits freigegeben.

Bucci ist nicht der einzige Wissenschaftler, der über die Ähnlichkeit der Daten in der Studie erstaunt ist. „Solche ähnlichen Muster bei unterschiedlichen Messungen kommen kaum vor“, sagte Konstantin Andreev, Experte für Virusinfektionen an der Northwestern University in Evanston dem Fachmagazin „Nature“.

Auch Bucci wird im Artikel zitiert: „Wir unterstellen den Forschern kein wissenschaftliches Fehlverhalten, sondern bitten um Klärung, wie diese scheinbar ähnlichen Datenpunkte zustande gekommen sind. Als wir Berichte lasen, dass Russland damit begonnen hatte, den Impfstoff außerhalb klinischer Studien zu injizieren, waren wir der Meinung, dass wir sofort unsere Stimme erheben mussten.“ Andrea Cossarizza, Professor für Pathologie und Immunologie an der Universität Modena, sagte gegenüber der „Moscow Times“, dass die Daten aussähen, als seien sie mit Photoshop bearbeitet worden.

Indien will 100 Millionen Dosen von russischem Impfstoff

Am Mittwoch wurde indes bekannt, dass Russlands Staatsfonds und eine indische Pharmafirma abgemacht haben, dass sie 100 Millionen Dosen eines potenziellen Impfstoffs in Indien verteilen wollen. Sollten Tests mit „Sputnik V“ erfolgreich ablaufen und indische Behörden ihn zulassen, könnte der Impfstoff Ende 2020 in Indien bereitstehen, hieß es in einer gemeinsamen Pressemitteilung des Russian Direct Investment Fund und der indischen Pharmafirma Dr. Reddy’s Laboratories Limited.

Die indische Pharmafirma soll nun laut Mitteilung Phase-3-Tests in Indien durchführen, die die Wirksamkeit und Sicherheit des Impfstoffs für die indische Bevölkerung prüfen sollen. Diese Tests würden für eine mögliche Zulassung in Indien benötigt. In Indien gibt es fünf Millionen bekannte CoV-Fälle. Das sind weltweit die zweitmeisten registrierten Infektionen. Nur in den USA gibt es mehr. In absoluten Zahlen gerechnet steigen die bekannten Neuinfektionen in der südasiatischen Nation seit Wochen schneller als in jedem anderen Land.

In den vergangenen 24 Stunden kamen mehr als 90.000 neue Fälle dazu, in der vergangenen Woche rund 600.000, wie offizielle Zahlen zeigen. Auch gibt es anders als in den USA keinen Hinweis auf ein Abflachen der Kurve. Inzwischen berichten örtliche Medien auch, dass in mehreren Regionen der medizinische Sauerstoff für Patienten knapp wird. Einige sollen deshalb gestorben sein.