Innenhof eines Wohnhauses mit begrünter Fassade
ORF.at/Christian Öser
Neues CO2-Ziel

„Die Chance“ für Europa

Die EU hat diese Woche die eigenen Klimaziele kräftig angezogen: Bis 2030 will man nun 55 und nicht nur 40 Prozent der Treibhausgasemissionen einsparen. Details gibt es bisher kaum, betroffen sind aber wohl alle Bürgerinnen und Bürger. Und die Änderungen werden sichtbar sein: Vor allem beim Thema E-Mobilität, aber auch in den eigenen vier Wänden gibt es Aufholbedarf. „Viel Veränderung, viele Chancen“, so ein Experte zu den Zielen.

Sebastian Oberthür, Professor für nachhaltige Entwicklung an der Vrije Universiteit Brussel, sagt im Gespräch mit ORF.at, dass die verschärften Klimaziele auch im Hinblick auf 2050 zu sehen sind – dann will die EU nämlich komplett klimaneutral sein. Die nun von der Kommission vorgegebenen minus 55 Prozent bei den Emissionen sind „damit ein Meilenstein auf dem Weg zu minus 100 Prozent“, so Oberthür.

„Wenn nicht jetzt, wann dann?“, sagt unterdessen Energieexperte Christian Egenhofer vom Thinktank Centre for European Policy Studies (CEPS) gegenüber ORF.at. Durch die Coronavirus-Krise seien bereits bestimmte Industrien unter Druck, zwar können diese von Regierungsseite wiederbelebt werden, aber das wäre oft „keine zukunftsweisende Investition“.

Viele Bereiche von Änderungen betroffen

Wie schon von EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen bei ihrer Rede zur Lage der EU am Mittwoch angekündigt, wird die Umsetzung der Klimaziele nämlich viele Bereiche streifen. Vor allem dort, wo es bereits Fortschritte gibt, sei eine Beschleunigung nun unabwendbar: So gebe es im „Kraftwerksbereich den Umbau in Richtung erneuerbare Energien“, so Oberthür – dieser werde „jetzt sicher noch einmal schneller gehen“. Und auch in der Industrie sei man „am Beginn eines Umbaus“, hier werde man etwa für die Elektrifizierung viel investieren, um die Technologie voranzubringen.

E-Auto an einer Ladestation
ORF.at/Christian Öser
Beim Thema E-Mobilität wird sich viel tun müssen

Das sind freilich große Vorhaben, die politisch und wirtschaftlich für hitzige Debatten sorgen werden. So wird es auch für Kohlekraftwerke noch enger: Viele Länder müssen jetzt wohl noch früher aussteigen – denn: „wenn die Preise für CO2 hochgehen, rechnet sich Kohle irgendwann nicht mehr“, so Oberthür. Laut Egenhofer gibt es bereits seit einigen Jahren Kohlekraftwerke, die „bis zu 60 Prozent Verlust einfahren“. „Viele“ werden geschlossen werden. Als Alternative für die Grundlast sieht Egenhofer etwa Offshore-Windparks, also Windkraft, die meistens im Meer erzeugt wird – sollten die Kosten dafür fallen, könnte das den Energiebedarf sichern.

Auch privater Bereich für Erreichen der Ziele wichtig

Doch um die vorgegebenen Klimaziele zu erreichen, bedarf es Änderungen, die bis ins Privatleben reichen: Für Oberthür gibt es zwei „ganz dicke Bereiche“, nämlich Transport und Gebäude. E-Mobilität wird ja bereits seit Längerem heftig diskutiert, hier müsse jedenfalls „ganz radikal etwas passieren“. Während die Technologie bei Pkws mittlerweile weit gediehen sei, sei bei Lkws „zu wenig passiert in den letzten Jahren“, so der Forscher.

Beide Experten sehen jedenfalls ein früheres Aus des Verbrennungsmotors: So sagt Oberthür, dass es mit den neuen Vorgaben „2030, 2035“ eigentlich keine neuen Autos mit Verbrennungsmotor mehr geben dürfe. Egenhofer sieht schon 2025 ein preisliches Gleichziehen von Pkws mit Verbrennungsmotor und E-Autos. Das hängt freilich auch davon ab, ob die Infrastruktur entsprechend ausgebaut wird – Oberthür sagt etwa, dass es „sehr viel mehr“ Ladesäulen geben müsse.

„Renovierungswelle“ als große Hürde und große Chance

Die von der Kommissionspräsidentin in Aussicht gestellte „Renovierungswelle“ könnte unterdessen zu den sichtbarsten Veränderungen der kommenden Jahre zählen. Momentan liegt die jährliche Renovierungsrate laut Oberthür bei „etwa ein Prozent des Bestandes“, das heißt ein Prozent der bestehenden Gebäude wird jährlich renoviert. Wenn man die Emissionen in den nächsten drei Jahrzehnten auf null bringen will, dann müsste man diese Rate also praktisch verdreifachen.

Photovoltaik-Panele auf einem Wohnhaus in Salzburg
ORF.at/Georg Hummer
Häuser sollen künftig Energie produzieren, nicht Energie kosten, so Experten

Es müsse „sichergestellt werden, dass alle neuen Gebäude keine Energie mehr benötigen, sondern stattdessen selbst erzeugen müssen“, so der Forscher. „Dazu müssen Investitionsmittel zur Verfügung gestellt werden“, sagt Oberthür, der auf einen positiven Nebeneffekt verweist: „Da sind viele Arbeitsplätze drin.“

Österreichs Klimaziele

Laut Regierungsprogramm von ÖVP und Grünen soll Österreich bis 2040 klimaneuteral werden. Schon bis 2035 will man aus dem Heizen mit Kohle und Öl aussteigen. Im Klimaschutzgesetz sollen laut Programm verbindliche Reduktionspfade und Ziele bis 2040 bzw. 2030 gesetzt werden.

Ausbildung wird wesentlicher Faktor

Gleichzeitig heißt das aber noch nicht, dass all diese Arbeitsplätze auch besetzt werden können. „Es besteht ein erheblicher Bedarf an Ausbildung“, so Oberthür. Und auch Egenhofer sieht die „Verfügbarkeit von Arbeitern“ als einen ganz wesentlichen Faktor beim Thema Renovierung.

Das ist dann letztlich auch ein soziales Thema, auf das schon am Donnerstag bei einer Pressekonferenz von Vizekommissionspräsident Frans Timmermans und Energiekommissarin Kadri Simson hingewiesen wurde. Einerseits fehlt ärmeren Haushalten wahrscheinlich das Geld, um die eigenen vier Wände klimaeffizient zu renovieren, so Simson. Andererseits gehe es auch um die Auswirkungen des Wegfalls von dann obsoleten Industrien, etwa im Hinblick auf das Thema Kohle. Hier sieht Oberthür Raum für Aus- und Umbildung, denn: „Ein Kohlekumpel ist kein Gebäuderenovierer.“

Alle Bereiche müssen zusammenarbeiten

Erschwerend kommt hinzu, dass die Gebäuderenovierung vor allem in den Verantwortungsbereich der Mitgliedsstaaten fällt – und die EU nur bedingt Einfluss darauf hat. Doch das groß dimensionierte Rettungspaket der EU mit einem Umfang von 750 Milliarden Euro könnte gezielt Investitionen in zukunftsträchtige Bereiche in Aussicht stellen und vielleicht damit einen Anreiz schaffen.

EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen
Reuters/Yves Herman
Am Mittwoch gab Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen die neuen Ziele vor

Die vielleicht größte Hürde, die vorgegebene Treibhausgasreduktion von 55 Prozent zu erreichen, ergibt sich aus der Vielzahl an Bereichen, die in dieses Ziel involviert sind. Oberthür spricht von einer „Sektorkopplung“, mit der mehrere Bereiche miteinander verkettet sind, und nennt ein relativ einfaches Beispiel: Wenn man die Industrie stärker elektrifiziert, muss man viel mehr Strom erzeugen. Das bedeutet also, dass man einen höheren Bedarf decken muss, gleichzeitig aber aus fossilen Brennstoffen aussteigt. „Im Umkehrschluss heißt das: Wir müssen viel mehr einsparen.“ Damit müssen die verschiedenen Sektoren aufeinander abgestimmt sein.

Die große Möglichkeit für den ambitionierten Klimaplan ist also ausgerechnet aus der Coronavirus-Krise entstanden: „Man wusste, wie viel investiert werden muss, aber man wusste nicht so recht, wo die Mittel dafür herkommen sollen“, so Oberthür. „Die sind jetzt da, das ist die Chance.“ Eines scheint aber auch klar: Die EU alleine kann das Ziel zwar vorgeben, für das Erreichen ist sie aber in vielen Bereichen auf die Mitgliedsstaaten angewiesen – die anvisierten 55 Prozent werden damit noch für viel Gesprächsstoff sorgen.