Viele Menschen mit und ohne Mund-Nasen-Schutz im Viertel Chinatown in London
Reuters/Henry Nicholls
Rufe nach Kursänderung

Briten droht Kampf gegen CoV zu entgleiten

Rasant steigende Infektionszahlen, ein überfordertes Testsystem und regionale Lockdowns: Großbritannien scheint der Kampf gegen das Coronavirus erneut zu entgleiten. Fachleute appellierten deshalb zuletzt eindringlich für eine Kursänderung der Regierung. Im Londoner Parlament kündigte Premier Boris Johnson eine strenge Überprüfung der CoV-Maßnahmen an – auch mit einem möglichen Militäreinsatz.

Johnson, dem vorgeworfen wird, zu spät und falsch auf die erste Ausbruchswelle reagiert zu haben, hatte angesichts der steigenden Zahlen eine Notfallsitzung für Dienstag einberufen. Das Land befinde sich an einem „gefährlichen Wendepunkt“, so Johnson. Die Polizei werde dabei präsenter in den Straßen des Landes sein, gegebenenfalls könne zur Verstärkung auch das Militär eingesetzt werden.

Bereits jetzt zählt Großbritannien mit mehr als 41.000 Verstorbenen die meisten Coronavirus-Todesfälle in Europa und die fünftmeisten weltweit. Rund 400.000 Menschen haben sich seit Ausbruch der Pandemie mit dem Virus infiziert – ein Großteil davon entfällt auf England. Zuletzt kamen täglich mindestens 3.000 Infektionen hinzu, am Montag waren es sogar über 4.300. Auch die Krankenhauseinweisungen verdoppeln sich alle acht Tage. Am Montag erhöhte Großbritannien die Covid-19-Warnstufe von drei auf vier.

Lockdown-Frage als heißes Eisen

Als heißes Eisen gilt am Dienstag deshalb wohl erneut die Frage nach einem weiteren Lockdown. Berichten zufolge hat das Thema zuletzt zu Verstimmungen innerhalb der Regierung geführt. „Eine Unterhaltung, eine Debatte, ist ziemlich angebracht und genau das, was man erwarten würde“, sagte Transportminister Grant Shapps der BBC.

Viele Menschen mit und ohne Mund-Nasen-Schutz im Viertel Soho in London
Reuters/Henry Nicholls
Pubs sind von Verschärfungen betroffen

Zuvor schloss auch der britische Gesundheitsminister Matt Hancock einen zweiten Lockdown im BBC-Interview vom Sonntag nicht mehr aus. „Wenn jeder den Regeln folgt, können wir einen weiteren nationalen Lockdown vermeiden. Aber wir müssen natürlich darauf vorbereitet sein zu handeln, wenn es nötig ist“, sagte er.

„Nation steht vor einem Wendepunkt“

„Ich schließe es nicht aus. Ich will nicht, dass es passiert“, sagte Hancock am Sonntag zu einem möglichen erneuten Herunterfahren der Wirtschaft und strikteren CoV-Regeln. „Die Nation steht vor einem Wendepunkt, und wir haben die Wahl“, sagte er dem Sender Sky News. Die zweite Ausbruchswelle sei in Großbritannien angekommen, so Johnson am Freitag. Er wolle keinen zweiten Lockdown. Es stünden aber alle Maßnahmen auf dem Prüfstand.

In den Medien kursierten hierbei mehrere Optionen: Einem Bericht der „Financial Times“ zufolge hat das wissenschaftliche Beratergremium der Regierung („Sage“) einen zweiwöchigen Lockdown während der Schulferien im Oktober empfohlen, um die stark steigenden Infektionszahlen in den Griff zu bekommen.

Restriktionen bei Pubs, Aufruf zu Homeoffice

Für die Regierung sei Nichtstun genauso wenig eine Option wie ein zweiter landesweiter Lockdown, kommentierte die BBC-Innenpolitikjournalistin Laura Kuenssberg. Ab Donnerstag müssen alle Restaurants, Pubs und Bars um 22.00 Uhr schließen, wie die Regierung in London am Montagabend mitteilte. Auch darf in den gastronomischen Einrichtungen nur noch am Tisch bedient werden.

Angesichts der stark steigenden Infektionszahlen empfiehlt die britische Regierung ihren Bürgerinnen und Bürgern wieder die Arbeit im Homeoffice. „Leuten, denen es möglich ist, von zu Hause zu arbeiten, würden wir empfehlen, das zu tun“, sagte Staatsminister Michael Gove am Dienstag dem Sender Sky News. „Die Infektionsrate geht nach oben, die Zahl der Menschen, die ins Krankenhaus müssen, geht nach oben, und deswegen müssen wir handeln.“

„Weltbeste“ Teststrategie scheitert

Zunächst hatte die Regierung die hohen Infektionszahlen noch mit den zahlreichen Tests zu erklären versucht. London hatte immerhin das „weltbeste“ Coronavirus-Testsystem in Aussicht gestellt. Doch das Testsystem ist inzwischen an seine Grenzen geraten – mit den steigenden Infektionszahlen sind Tests Mangelware geworden.

Viele potenziell infizierte Briten müssen nun stundenlange Fahrten auf sich nehmen, um in einem Testzentrum angenommen zu werden. Laut der „Financial Times“ ist der Anteil derjenigen, die nach einem Test am nächsten Tag das Ergebnis bekommen, seit Anfang September außerdem von gut 60 auf nur noch acht Prozent gefallen.

Einschränkungen in mehreren Regionen

Am Montag traf sich Johnson überdies zu Beratungen mit Vertretern der Regionalregierungen von Schottland, Wales und Nordirland. Jeder Landesteil in Großbritannien entscheidet im Kampf gegen die Pandemie über seine eigenen Maßnahmen. Um der Situation Herr zu werden, wurden jüngst für mehrere Gegenden striktere Maßnahmen angeordnet, so zuletzt für große Teile von Wales, wo ab Dienstagabend knapp ein Drittel der Bevölkerung sich nur noch eingeschränkt bewegen darf.

Britischer Premier Boris Johnson mit Mund-Nasen-Schutz
APA/AFP/Aaron Chown
Johnson steht wegen seines Umgangs mit der Pandemie seit Monaten in der Kritik

In Nordirland sind ab Dienstagabend bis auf wenige Ausnahmen die Treffen von Angehörigen verschiedener Haushalte untersagt. Im Freien werden noch Treffen von maximal sechs Menschen aus zwei Haushalten erlaubt sein. Auch die schottische Regierungschefin Nicola Sturgeon stimmte ihre Landsleute bereits auf weitere Einschränkungen ein. Verschärfungen – etwa Ausgehregeln und vorgezogene Sperrstunden – gab es zuletzt auch in mehreren Teilen Englands.

Für diejenigen, die sich nicht an die Vorschriften wie etwa Quarantäneregeln in England halten, hatte der Premier drakonische Strafen angekündigt. Ab Ende September müssen demnach Menschen, die wiederholt gegen Auflagen zur Selbstisolierung verstoßen, eine Geldstrafe von umgerechnet bis zu 10.900 Euro zahlen. Vor allem die Überlastung des ohnehin maroden Gesundheitssystems NHS soll verhindert werden.

Experte: Mitte Oktober täglich 50.000 Fälle möglich

Erst am Montag schlugen hochrangige Experten Alarm: Wenn das Land nicht umgehend gegensteuere, droht ihnen zufolge ein rapider Anstieg der Todeszahlen. Sollte die Pandemie nicht eingeschränkt werden, könnten bis Mitte Oktober 50.000 Infektionen pro Tag hinzukommen, warnten der Chefarzt für England, Chris Whitty, und der Wissenschaftsberater der Regierung, Patrick Vallance.

„Wenn man auf diesem Pfad weitergeht, wird die Zahl der Toten in direktem Zusammenhang mit Covid weiter klettern, potenziell auf einer exponentiellen Kurve. Das bedeutet: eine Verdoppelung und eine Verdoppelung und noch eine Verdoppelung.“ Sehr schnell könne man dann von relativ kleinen „auf wirklich sehr große Zahlen“ kommen. „Wenn wir nicht genug unternehmen, wird das Virus abheben. Und im Moment sind wir ganz klar auf diesem Pfad.“ Ohne Kursänderung werde Großbritannien „ein sehr schwerwiegendes Problem“ bekommen.

Das Virus breitet sich in allen Landesteilen aus, doch nach Angaben der Experten verfügen nicht einmal acht Prozent der Bevölkerung über Antikörper. Es müsse gehandelt werden, und zwar schnell, mahnten die beiden Wissenschaftler. Der Winter stehe bevor, und das Covid-Problem werde Großbritannien noch mindestens ein halbes Jahr zu schaffen machen.

Schlechtes Zeugnis für Regierung

Viele Britinnen und Briten stellen ihrer Regierung im Umgang mit der Krise ein schlechtes Attest aus. Nach einer Yougov-Umfrage glauben 63 Prozent der Befragten, dass die Regierung schlecht auf die Pandemie reagiert habe. Nur etwa 30 Prozent halten die bisher getroffenen Maßnahmen für gut.

Für Aufsehen sorgte indes auch eine kolportierte Italien-Reise Johnsons. Der italienischen Zeitung „La Repubblica“ zufolge soll der britische Premier von 10. oder 11. bis 14. September nach Perugia gereist sein – ein Regierungssprecher streitet das aber ab. Es wäre nicht die erste Perugia-Reise Johnsons, die Schlagzeilen macht: In seiner Zeit als Außenminister besuchte er im April 2018 den britisch-russischen Millionär Evgeny Lebedev. Ein offizieller Besuch sei es nicht gewesen, Berichten zufolge soll Johnson zerzaust und ohne Gepäck angereist sein.