Taxifahrerin Susi Pundratschek, gespielt von Margarethe Tiesel
ORF
„Hauptstadt-Saga“

Die Wien-Wahl als Taxifahrt

Am 11. Oktober wird in Wien ein neuer Landtag gewählt. Warum der Ausgang dieser Wahl weit über die Grenzen der Bundeshauptstadt zu spüren sein wird, beleuchtet ORF1 in „Wien wählt: Die Hauptstadt-Saga“. In einer Taxifahrt durch die verschiedenen Viertel und Schichten Wiens werden Themen dieser Wahl deutlich. Etwa: warum gerade über dieser Wien-Wahl die Gefahr einer Zweidritteldemokratie lauert.

Am Sonntag, dem 11. Oktober, wird Marta Suzama ihren Mann zum Wahllokal im 18. Wiener Gemeindebezirk begleiten, selbst aber kein Kreuzerl machen. Seit zehn Jahren lebt und arbeitet die Kunsthistorikerin in Wien, als tschechische Staatsbürgerin darf sie hierzulande aber nur auf Bezirks-, jedoch nicht auf Landtagsebene wählen. „Wenn man hier lebt, Steuern zahlt, arbeitet, Familie hat und einfach ein fester Bestandteil dieser Gesellschaft ist, dann sollte man auch politische Teilhabe haben“, argumentiert die junge Frau.

TV-Hinweis

„Wien wählt: Die Hauptstadt-Saga“, Teil eins: „Urlaubsgrüße aus Ibiza“, Mittwoch, 23.9.2020, 21.05 Uhr, ORF1

„Wien wählt: Die Hauptstadt-Saga“, Teil zwei: „Wer fürchtet sich vorm roten Mann?“, Mittwoch, 30.9.2020, 21.05 Uhr, ORF1

Marta ist nicht allein. Bei der Landtagswahl am 11. Oktober sind 30 Prozent der Menschen in Wien nicht wahlberechtigt, weil sie keine österreichische Staatsbürgerschaft haben. Österreichweit dürfen fast 15 Prozent der Menschen, die hier leben, nicht wählen.

Was macht eine gute Demokratie aus? Mit dieser Frage beschäftigt sich Wissenschaftlerin Martina Zandonella vom SORA-Institut seit zwölf Jahren. Ihre zentrale Erkenntnis: Die Wahlbeteiligung soll über unterschiedliche Bevölkerungsgruppen hinweg möglichst gleich verteilt sein. Unabhängig von Arbeit, Einkommen, Bildungsniveau oder Herkunft sollen gleich viele Menschen wählen gehen. Aktuell sei das aber nicht mehr der Fall, sagt Zandonella.

Ein Paar, getrennte Rechte

Ein Wiener Ehepaar hat ein Ritual: Er darf wählen, sie muss zuschauen. Wie eine Wahl in Wien abläuft, haben beide sehr genau im Blick.

Ökonomische Ungleichheit = politische Ungleichheit

„Wir sehen eine sehr große Ungleichheit in Österreich und vor allem in Wien“, erklärt die Wissenschaftlerin. Die Menschen, die nicht wählen dürften, also auch jene, die nicht wählen wollten, hätten eines gemein, so die Expertin: „Das sind vor allem Menschen, denen es ökonomisch schlechter geht. Das sind arbeitslose Menschen, Menschen mit einem geringen Einkommen oder formal niedrigen Bildungsabschlüssen.“

Zandonella forscht seit über einem Jahrzehnt zum Thema politische Teilnahme in Österreich. Beziehungsweise zur Nichtteilnahme. Man müsse sich die Frage stellen, so Zandonella, ob wir auf dem Weg in eine Zweidritteldemokratie unterwegs seien, also dass das untere Drittel der Gesellschaft irgendwann komplett aufhört, an demokratischen Prozessen zu partizipieren.

Unterwegs zur Zweidritteldemokratie

SORA-Expertin Zandonella über die sozialen Hintergründe zur Frage, wer wählen darf und wer nicht.

Wer darf wählen?

An der Wien-Wahl dürfen österreichische Staatsbürger, die am Wahltag mindestens 16 Jahre alt sind und in Wien einen Hauptwohnsitz haben, teilnehmen. Anders als in Österreich hängt das Wahlrecht nicht überall auf der Welt von der Staatsbürgerschaft ab. In Neuseeland darf beispielsweise jeder wählen, der länger als zwei Jahre dort lebt und eine dauerhafte Aufenthaltsgenehmigung hat. In Schweden sind alle EU-Bürger, die dort leben, sowohl bei Bezirks- als auch bei Regionalwahlen wahlberechtigt.

Politikberater Thomas Hofer vor einem Wiener Würstelstand
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Thomas Hofer – der Politikberater gibt seine Meinung zu den Beobachtungen der Taxlerin ab

Geht es nach dem Wunsch von Grünen und NEOS, sollte das Wahlrecht auch in Österreich ausgeweitet werden – zumindest für EU-Bürgerinnen und EU-Bürger. „Wenn man hier wohnt und nicht mitbestimmen kann, fühlt man sich auch weniger zugehörig“, argumentiert NEOS-Spitzenkandidat Christoph Wiederkehr. Und Wiens Vizebürgermeisterin und Grünen-Spitzenkandidatin Birgit Hebein betont: „Wir haben uns sehr dafür eingesetzt, dass das Wahlrecht verändert wird. Es liegt leider an der Bundesebene, und dort braucht es eine Zweidrittelmehrheit.“

Diese Zweidrittelmehrheit ist momentan nicht absehbar, da ÖVP, FPÖ und auch die SPÖ gegen eine Ausweitung des Wahlrechts sind. Wahlrecht sollte Staatsbürgerrecht bleiben, ist ihre eindeutige und einheitliche Botschaft.

Dominik Nepp mit blauen Wahlkämpfern auf der Alten Donau
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Alte Donau statt Ibiza: Dominik Nepp muss die FPÖ bei der Wahl nach 31 Prozent neu landen. Das Abschneiden der Blauen wird mit über die Verschiebung der Kräfte in Wien entscheiden.

Viele haben genug von der Politik

Neben den Nichtwahlberechtigten gibt es noch jene, die zwar wählen dürften, aber trotzdem nicht zur Wahl gehen. Bei der Nationalratswahl im Vorjahr nahmen immerhin 28 Prozent nicht teil und kehrten somit der Politik ihren Rücken zu. Das Vertrauen der Wählerinnen und Wähler in die Politik und in das politische System sei zuletzt durch das „Ibiza“-Video und den Spesenskandal gebremst worden, erklärt Politikberater Thomas Hofer.

Hofer geht davon aus, dass die Wahlbeteiligung bei der Wien-Wahl sinken wird. „Wir wissen heute nicht, wie die Corona-Situation im Oktober ist. Das kann dämpfen“, prognostiziert er: „Natürlich wird die Krise der FPÖ dämpfen. Die kommt von 31 Prozent, und ein Teil dieser 31 Prozent wird mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit in den Nichtwählerbereich gehen.“

Das Lager der Nichtwähler

Manche würden gerne wählen, andere dürfen wählen, haben aber keine Lust. Zusammen machen sie bereits ein gutes Drittel der Bevölkerung einer Stadt aus, die eigentlich mitbestimmen könnte und sollte, wohin sich ein politisches Gebilde entwickelt.

Die ökonomische Schere zwischen Reich und Arm wird zunehmend auch zu einer politischen Schere. Laut Wissenschaftlerin Zandonella lässt sich das sogar auf einzelne Bezirke herunterbrechen. Bei der letzten Landtagswahl und auch bei der Nationalratswahl lag die Wahlbeteiligung in den „reicheren“ Wiener Bezirken wie Josefstadt, Penzing und Döbling um bis zu 15 Prozent über der Wahlbeteiligung „ärmerer“ Bezirke wie Favoriten, Rudolfsheim-Fünfhaus und Brigittenau.

Laut Zandonella wäre es wichtig, anzuerkennen, „dass politische Ungleichheit aus der ökonomischen Ungleichheit kommt“; deshalb müsse man sich um die ökonomische Ungleichheit kümmern.

Eine Taxifahrt als Politerkundung

Wo hängt das goldene Wiener Herz? Und wo hängt es mitunter ein bisschen schief? Susi Pundratschek fühlt der Stadt auf den Zahn und führt auch all jene durch Wien, denen die sozialen Landschaften nicht sehr vertraut sein mögen.

Eine Taxifahrt durch Wien

Die fiktive Taxifahrerin Susi Pundratschek, gespielt von Margarethe Tiesel (bekannt aus Ulrich Seidls „Paradies: Liebe“), kutschiert die Zuschauer einmal quer durchs politische Wien. Ihre Figur ist zwar fiktiv, ihre thematischen Zwischenstopps aber real und ernst: vom Zusammenbruch des rechten Lagers nach der „Ibiza“-Krise bis hin zum Wahlkampf in Zeiten des Coronavirus.

Reportageelemente und Interviews mit den Spitzenkandidaten der großen Wiener Parteien stehen im Mittelpunkt, Stimmen aus ganz Österreich ordnen ein und Politikberater Thomas Hofer gibt am Würstelstand seinen Senf dazu.