Anti-Regierungsdemonstration in Sofia
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Proteste in Bulgarien

CoV-Krise als Borissows Druckmittel

Bulgarien wird von monatelangen Demonstrationen erschüttert. Die Teilnehmer und Teilnehmerinnen fordern den Rücktritt der Regierung von Ministerpräsident Bojko Borissow. Immer wieder kommt es bei den Protesten zu schweren Zusammenstößen mit Verletzten und Festnahmen, so auch bei den Protesten anlässlich des Tages der bulgarischen Unabhängigkeit diese Woche. Die seit 2017 regierende bürgerlich-nationalistische Koalition von Borissow will angesichts der CoV-Krise im Amt bleiben.

Borissow hatte erst kürzlich wieder einen Rücktritt seiner Regierung abgelehnt und erneut mit der Coronavirus-Krise argumentiert. Borissow verwende und instrumentalisiere die Krise als politisches Druckmittel, quasi als „Joker“ für alle Fälle, sagen seine Gegner. Die nächste reguläre Parlamentswahl ist im März 2021. Die Demonstranten und Demonstrantinnen werfen Borissow Korruption und Nähe zu Oligarchen vor. Bulgarien gilt als das EU-Land, in dem Korruption am weitesten verbreitet ist. Das Land ist vergleichsweise arm. Wenige Oligarchen kontrollieren weite Teile der Wirtschaft.

Borissow versucht auch die Demonstranten zu diskreditieren, indem er sie mit Verbrechern in Verbindung bringt. „Die Mafia will jetzt die Regierung stürzen (…). Das veranlasst mich zu denken, dass kein Rücktritt eingereicht werden darf“, sagte Borissow Mitte September. „Glücksspielbranche, Schmuggler – sie alle sind jetzt gegen uns auf der Straße“, sagte er in Anspielung auf einen in Sofia unter anderem wegen Mordes und Leitung einer kriminellen Gruppe angeklagten Glücksspielboss, der sich in Dubai aufhält. Die Staatsanwaltschaft wirft ihm vor, die Proteste zu lenken und zu finanzieren.

Bulgarischer Premierminister Boyko Borisov
APA/AFP/Francisco Seco
Der bulgarische Ministerpräsident Bojko Borissow vor den Flaggen zahlreicher EU-Länder

Heftige Kritik auch an Chefankläger

Die Demonstranten bezeichnen ihrerseits Borissow und seine Regierung als Mafia. Die Proteste werden durch Regierungspläne für eine Verfassungsänderung angeheizt. Kritiker beanstanden, dass die Reform keine stärkeren Rechenschaftspflichten für den Chef der Staatsanwaltschaft vorsieht. Der aktuelle Chefankläger Iwan Geschew sieht sich wegen mutmaßlicher Verbindungen zu mächtigen Oligarchen ebenfalls mit Rücktrittsforderungen konfrontiert.

Anti-Regierungsdemonstration in Sofia
AP/Valentina Petrova
Teils arten die friedlichen Demos in Gewalt aus

Die Reform soll auch die Rechte des Präsidenten beschneiden. Der aktuelle Staatschef Rumen Radew steht der Borissow-Regierung sehr kritisch gegenüber. Er unterstützt die Forderungen der Demonstranten. Der Präsident forderte erst kürzlich erneut den Rücktritt der Regierung: „Der Wandel ist unvermeidlich. Jeder Starrsinn der Regierenden vertieft lediglich die Krise“, schrieb er auf Facebook.

Kopf-an-Kopf-Rennen in Umfragen

Borissow ist seit zehn Jahren fast ununterbrochen an der Macht. 2013 und 2016 trat er jeweils zurück, kehrte aber wenige Monate später an die Regierungsspitze zurück. Bisher weigert er sich allerdings, vor Ablauf seiner dritten Amtszeit im kommenden März zurückzutreten. Nach Meinungsumfragen von Mitte September würde die regierende bürgerliche Partei GERB derzeit 23,8 Prozent der Stimmen erhalten, die Sozialisten 23,4 Prozent. 47 Prozent der Befragten meinten, dass Neuwahlen notwendig seien.

Bulgarischer Präsident Rumen Radev
Reuters/Stoyan Nenov
Präsident Rumen Radew hat Sympathien für die Anliegen der Demonstranten

Aufregung zu Schulbeginn

Das EU-Land ist von der Coronavirus-Pandemie wieder weniger stark betroffen als im Juli und August, doch die Sorge in dem Land mit knapp sieben Millionen Einwohnern und Einwohnerinnen, dass die Fallzahlen rasch wieder steigen könnten, ist weiterhin groß. So hatte es etwa heftige Kritik an den Maßnahmen anlässlich der Wiederaufnahme des Schulunterrichts nach einer halbjährigen CoV-bedingten Pause letzte Woche gegeben.

Schutzmasken müssen nach diesen ersten Regeln nicht im Unterricht, aber auf den Gängen und in anderen geschlossenen Räumen der Schule getragen werden. Gegen diese gemäßigte Regelung protestierten vor dem Bildungsministerium in Sofia aufgebrachte Eltern, die frei entscheiden wollten, ob ihre Schulkinder Masken tragen. Für Unmut sorgte auch die Einrichtung von Isolierräumen, in denen Schüler mit Fieber oder Covid-19-Symptomen untergebracht werden müssen, bis ihre Eltern sie abholen. Die Demonstranten bemängelten, dass das bulgarische Wort „Isolator“ für diese Einrichtung bei den dort untergebrachten Schülern Schuldgefühle auslösen könnte.

Schild bei einer Anti-Regierungsdemonstration in Sofia
AP/Valentina Petrova
Die Demonstranten kritisieren auf Plakaten auch die Position der EU

Sorge um Pressefreiheit

Brüssel schaut indes mit Sorge auf die Proteste und die Lage der Pressefreiheit und Rechtsstaatlichkeit in Bulgarien. Sie verfolge die Demonstrationen in dem EU-Land „mit großer Besorgnis“, sagte EU-Kommissionsvizepräsidentin Vera Jourova vor Kurzem in einer Anhörung im EU-Parlament in Brüssel. „Das Vorgehen der Sicherheitskräfte sollte immer verhältnismäßig sein.“ Beunruhigend sei auch die Lage der Medien- und Pressefreiheit, sagte Jourova vor Abgeordneten des Parlamentsausschusses für bürgerliche Freiheiten. Laut aktuellen Untersuchungen dazu „ist die negative Entwicklung in Bulgarien sehr offensichtlich“.

Zugleich werde ein laufender EU-Kontrollmechanismus zu Bulgarien sowie in Rumänien vorerst nicht eingestellt, sagte Jourova weiter. Die beiden Länder unterliegen seit ihrem EU-Beitritt 2007 einer besonderen Kontrolle: Damals wurde angesichts von Defiziten im Justizwesen und im Kampf gegen Korruption und organisierte Kriminalität der Kooperations- und Überprüfungsmechanismus vereinbart. Dabei müssen die Länder Vorgaben erfüllen, deren Erreichen regelmäßig überprüft wird.

„Gibt viel Arbeit zu erledigen“

Die Regierungen in Sofia und Bukarest drängen seit Jahren vergeblich darauf, dass dieses Prozedere beendet wird. Der Mechanismus hätte zwar schon 2017 eingestellt werden sollen, „aber es gab und gibt immer noch viel Arbeit zu erledigen“, sagte Jourova nun. Sie wolle ebenfalls, dass die Verfahren beendet werden, aber dafür müssten Rumänien und Bulgarien ihre Verpflichtungen umsetzen.

Vorwürfe einiger EU-Abgeordneter, die Kommission habe Bulgarien und den seit Jahren dort regierenden Borissow zu lange unbehelligt gelassen, wies Jourova zurück. Die EU-Kommission sei kein Verfassungsrichter oder Staatsanwalt und nicht zuständig für die innenpolitische Situation in den Mitgliedsstaaten.