Menschen in Ausweichlager auf Lesbos
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„Nicht realistisch“

Experten sehen EU-Asylreform skeptisch

Nachdem die EU-Kommission am Mittwoch die Pläne für ihren Migrationspakt vorgestellt hat, zeigen sich vor allem Expertinnen und Experten skeptisch. „Vieles erscheint mir nicht realistisch“, sagt etwa der Migrationsforscher Gerald Knaus. Die Pläne würden vor allem „kosmetische“ Änderungen beinhalten, so der Forscher Yves Pascouau. Lob gibt es unterdessen von einigen Regierungen – auch in Österreich ist das Echo positiv.

Die EU-Kommission umriss am Mittwoch die Nachfolge der Dublin-Vereinbarung: schnellere Abschiebungen sowie Asylverfahren und eingehende Überprüfungen an den Außengrenzen – und ein Pochen auf Solidarität. Wobei das nicht verpflichtende Verteilungsquoten bedeutet, sondern unter anderem heißen kann, dass die Mitgliedsstaaten die Abschiebung von Menschen untereinander aufteilen, von der Kommission als „Patenschaft für die Rückführung“ betitelt.

Für den österreichischen Experten Knaus würden die vorgestellten Pläne „viel mehr Fragen als Antworten“ aufwerfen, sagte er gegenüber der APA. „Eine der Schlüsselfragen einer glaubwürdigen Grenz- und Asylpolitik sind Abschiebungen“, so Knaus. Die Vorstellung, dass Abschiebungen in außereuropäische Länder „jetzt auf einmal besser werden sollen“, erschließe sich ihm nicht.

Knaus ortet viele Unklarheiten

Auch die Idee der Abschiebepatenschaften ist für Knaus „sehr unklar“: Weil das Problem nicht in den EU-Ländern liege, sondern meistens bei der Kooperation mit den Herkunftsländern der Asylwerberinnen und Asylwerber. Viele Ziele des neuen Paktes seien "auf den ersten Blick legitim, so der Leiter der Europäischen Stabilitätsinitiative (ESI), „aber der Teufel steckt immer im Detail, und wenn es schiefgeht, führt es zu enormen Problemen wie in Moria heute“.

Menschen in der Nähe des zerstörten Flüchtlungscamp Moria auf Lesbos
Reuters/Yara Nardi
Die Situation in Moria könnte kein Einzelfall bleiben, wenn der Plan der EU schiefgeht, so Knaus

Als Achillesferse des EU-Plans sieht Knaus den Willen der Nationalstaaten, ihn umzusetzen. Ohne Interesse aller beteiligten Staaten – EU-Staaten, Herkunftsländer und Transitländer – werde es nicht gehen, „das haben wir die letzten Jahre gelernt“. Doch die Interessen stehen sich seiner Meinung nach innerhalb der EU „zum Teil diametral entgegen“. In dem Pakt sei etwa nicht klar, „was gewinnt Österreich oder Deutschland“ dadurch.

Forscher: Weiterführung der „Festung Europa“

An der „Logik und Philosophie“ der bestehenden Asylregeln ändere sich nichts, sagt unterdessen der französische Migrationswissenschaftler Pascouau. „Es wird auf Notsituationen, auf die Forderungen von Mitgliedsstaaten reagiert“, sagte der Forscher. Aber ein „Grundgerüst“ für einen Neuanfang sehe er nicht. Die Einzige erkennbare Strategie sei weiterhin die Idee der „Festung Europa“, der Abschottung durch Außengrenzschutz und Abschiebungen, sagte Pascouau weiter. „Das ist der einzige Punkt, bei dem sich die EU-Länder einig sind.“

Lob aus Österreich und Italien

Aus der Politik war das Echo in einigen Staaten unterdessen positiv. In einer ersten Reaktion auf die Vorschläge der EU-Kommission sagte Innenminister Karl Nehammer (ÖVP), dass ersichtlich sei, dass man sich „in ganz wichtigen Themenfeldern in die richtige Richtung bewegt“. Wenn es darum gehe, den EU-Außengrenzschutz zu stärken und „schneller, stärker und effizienter“ Rückführungen durchzuführen und Kooperationen mit Drittstaaten einzugehen, brauche es „eine starke und geschlossene Europäische Union“, so Nehammer. Auch Europaministerin Karoline Edtstadler (ÖVP) begrüßte den EU-Vorstoß – eine weitere Aufnahme von Flüchtlingen lehnt sie ab.

EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen
Reuters/Stephanie Lecocq
Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen will mit der Reform einen Neuanfang

Der italienische Regierungschef Giuseppe Conte sagte: „Der Migrationspakt ist ein wichtiger Schritt in Richtung einer wirklich europäischen Migrationspolitik.“ Die EU muss „Solidarität mit Verantwortung verbinden. Es bedarf Sicherheit in Sachen Heimführung der Migranten und Umverteilung. Die Ankunftsländer können nicht allein im Namen Europas mit den Migrationsströmen umgehen“, schrieb Conte.

Und selbst aus Ungarn war zumindest auf den ersten Blick kein direkter Widerspruch zu erkennen: Man lehne die verpflichtende Verteilung von Migranten ab, so der ungarische Regierungssprecher Zoltan Kovacs. Der Standpunkt der ungarischen Regierung hinsichtlich Migration sei seit 2015 „unverändert und eindeutig“, so Kovacs. „Die Hilfe muss dorthin gebracht werden, wo sie gebraucht wird, anstelle Probleme nach Europa zu holen“, sagte Kovacs. Am anderen Ende des Spektrums könnte Schweden den Kompromiss ebenfalls akzeptieren, hieß es am Mittwoch. Stockholm war bisher der Ansicht, dass alle EU-Länder in Krisensituationen selbst Flüchtlinge aufnehmen müssten.

Johansson sieht guten Kompromiss

Dass der Vorschlag ein Kompromiss sei, unterstrich Innenkommissarin Ylva Johansson. Im ORF-Interview sagte sie: „Um ehrlich zu sein glaube ich nicht, dass ein Mitgliedsstaat mit diesem Vorschlag vollkommen zufrieden ist. Aber ich denke, dass alle Mitglieder sagen können, dass das ein ausgewogener Vorschlag ist, der uns mit den echten Herausforderungen hilft.“

Für „manche Mitgliedsstaaten ist es wichtig, dass wir keine verpflichtende Umsiedlung haben, und das haben wir auch nicht vorgeschlagen. Jetzt können die Mitgliedsstaaten Solidarität per Patenschaft für Rückführungen zeigen“, so Johansson. Und: „Weil der Großteil der Menschen, die heute irregulär ankommen, einen negativen Bescheid bekommen wird, müssen sich die Mitgliedsstaaten gegenseitig helfen, um die Abschiebungen auch wirklich effizient durchführen zu können“, so Johansson.

NGOs orten Einknicken der EU

Auch NGOs kritisierten unterdessen die Pläne der EU. „Leider hat die Kommission im Endeffekt dem Druck derjenigen EU-Regierungen nachgegeben, die vor allem die Anzahl der Menschen verringern wollen, denen Europa Schutz gewährt“, so die Europa-Chefin der Menschenrechtsorganisation Oxfam, Marissa Ryan. Die Hilfsorganisation Caritas sieht Grund- und Menschenrechte von Asylsuchenden in Gefahr.

Wie die EU künftig Migration regeln will

Die EU-Kommission präsentiert ihren Pakt, wie Migration in der EU künftig besser geregelt werden soll. Abschiebungen sollen unter anderem schneller geschehen.

Ein Solidaritätsmechanismus, der „den EU-Mitgliedsstaaten die Möglichkeit gibt, die Aufnahme zu vermeiden, indem die Rückkehr von Migranten erleichtert wird“, sei „inakzeptabel“, erklärte die Europa-Chefin der Caritas, Maria Nyman. Der Fokus auf den Außengrenzschutz und Rückführungen werde zwangsweise zulasten von völkerrechtlichen Grundprinzipien des humanitären Umgangs mit Flüchtlingen gehen.

Deutschland kritisiert Österreich

Der deutsche Innenminister Horst Seehofer kritisierte unterdessen Österreichs Haltung in der Flüchtlingspolitik erneut. Dass sich Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP) der Idee der Solidarität in der Asylpolitik verweigere, mache ihn „wirklich traurig“, sagte Seehofer bei einer Pressekonferenz am Mittwoch in Berlin. „Wir wollen nicht, dass die Interessen eines Landes vor den europäischen Interessen stehen. (…) Das ist nicht das, was Europa baut.“

Seehofer hält es für wahrscheinlich, dass sich die EU-Mitglieder in absehbarer Zeit auf eine neue gemeinsame Asylpolitik einigen. „Insgesamt kann man sagen, der Vorschlag bietet auch aus Sicht der deutschen Ratspräsidentschaft eine gute Grundlage für die Beratungen mit der Kommission und mit den Mitgliedsstaaten.“

Zeitplan noch offen

Denn mit den Vorschlägen der Kommission ist lediglich der erste Schritt getan, nun müssen diese mit den Mitgliedsstaaten und dem Parlament verhandelt werden. Einen einstimmigen Beschluss im Rat der Staats- und Regierungschef braucht es aber nicht: Es reicht schon eine qualifizierte Mehrheit. Das heißt, dass 55 Prozent der EU-Staaten, also mindestens 15 der 27, dafür stimmen müssen. Zusätzlich müssen diese mindestens 65 Prozent der Bevölkerung in der Union repräsentieren.

Johansson geht davon aus, dass eine Zustimmung wohl „nicht lange dauern“ werde, „wenn der politische Wille da ist“. Doch es bleibt abzuwarten, ob eine Einigung angesichts der vielen unterschiedlichen Positionen wirklich so schnell möglich ist – das werden die kommenden Wochen und Monate zeigen.