Flaggen der UN-Mitgliedsstaaten
AP/The Canadian Press/Darryl Dyck
Krise als Triebfeder

Abgesang der Diplomatie

Der Zustand der Diplomatie liegt im Argen, die Pandemie hat das noch verschärft – Sinnbild dafür ist die diesjährige Generalversammlung der Vereinten Nationen. Die verordnete Distanz verunmöglicht vieles und legt den schwindenden Willen zu internationaler Kooperation offen. Nicht nur die USA haben ihre stabilisierende Rolle aufgegeben.

„Die Franzosen sagen, dass man erst dann wirklich ein Vertrauensverhältnis aufbauen kann, wenn man dreimal mit ihnen zu Mittag gegessen hat. Durch Videoanrufe kann man bestehende Beziehungen aufrechterhalten, neue Beziehungen kann man nicht pflegen“: So zitierte der „Guardian“ unlängst einen erfahrenen Diplomaten, der damit auch ein Problem der 75. Generaldebatte der UNO-Vollversammlung diese Woche umriss.

Die Vertreter aller 193 Mitgliedstaaten sprachen und sprechen nicht wie sonst live im Hauptquartier in New York, ihre Reden wurden pandemiebedingt vorab per Video aufgezeichnet. In der Halle der Vollversammlung ist jedes Land nur mit einem örtlichen Diplomaten vertreten.

„Mit Zoom gibt es keine wirkliche Interaktion“

Die sonst üblichen Hintergrund- und Privatgespräche, in denen oft mehr bewirkt wird als auf großer Bühne, fallen somit flach. „Mit Zoom gibt es keine wirkliche Interaktion, aber Kompromisse brauchen Interaktion, und Diplomatie nährt sich von Kompromissen. Es ist alles viel zu formal und hierarchisch. Wenn wir am Ende die Stummschalttaste drücken, sind wir nicht weitergekommen“, hielt ein weiterer Diplomat gegenüber dem „Guardian“ fest.

UNO Vollversammlung, 2019
Reuters/Eduardo Munoz
Im Vorjahr waren die Ränge bei der Generalversammlung noch voll

Erschwerend kommt hinzu, dass die Vereinten Nationen selbst in einer handfesten Krise stecken: Streitigkeiten und Misstrauen zwischen den Großmächten blockieren die Organisation. Für Reformen wäre die Zustimmung der fünf ständigen Mitglieder des Sicherheitsrates erforderlich – also der USA, Chinas, Russlands, Frankreichs und Großbritanniens. Diese fünf aber würden sich dagegen wehren, weil Reformen „zu einer Überholung der internationalen Gemeinschaft und dem Verlust ihrer Privilegien“ führen würden, sagte Bertrand Badie, Professor am Institut für politische Studien in Paris.

Weltordnung im Schwinden

„Rüstungskontrollverträge, die dazu beigetragen haben, den Kalten Krieg auch ‚kalt‘ zu halten, indem sie die Verbreitung von Atomwaffen verlangsamten und ein Mindestmaß an Vertrauen zwischen den Großmächten geschaffen haben, wurden verletzt oder zerstört. Die wenigen Sicherheitsgrenzen, die noch intakt sind, könnten bald verschwinden“, hieß es diese Woche in einem „Politico“-Artikel.

Für „das gegenwärtige Schwinden der ‚universellen‘ Weltordnung“ gäbe es keinen alleinigen Schuldigen, vielmehr sei ein Zusammenspiel mehrerer Faktoren verantwortlich: Chinas zunehmend selbstbewusster Aufstieg, der etwa durch die Militarisierung des Südchinesischen Meeres offensichtlich wird, sowie Russlands revisionistischer Drang, sich Einflusssphären zu sichern, veranschaulicht durch die Beschlagnahme und Annexion der Krim von der Ukraine.

UNO Vollversammlung, 2019
APA/AFP/Michel Euler
So sieht eine Unterredung unter Staatschefs gegenwärtig aus

Hauptfaktor sei aber die Weigerung der USA unter Präsident Donald Trump, Abkommen über den Iran, den Klimawandel oder den Handel einzuhalten, zu denen seine Vorgänger die Vereinigten Staaten verpflichtet hatten. „Washingtons Vernachlässigung seiner Rolle nach dem Zweiten Weltkrieg als Garant einer liberalen, auf Regeln basierenden internationalen Ordnung – ungeachtet aller Mängel und Unzulänglichkeiten – war wohl der erschütterndste und schädlichste Schlag“, hieß es in „Politico“.

Trump im Feldzug gegen UNO-Organisationen

Trumps „diplomatischer Vandalismus“ betrifft etwa die Weltgesundheitsorganisation (WHO), jene UNO-Organisation, die an vorderster Front im Kampf gegen die Pandemie steht. Die USA hatten mitten im Ausbruch von Covid-19 aus Protest gegen die angebliche Bevorzugung der Organisation von China seine Finanzierung eingestellt – Trump hält die WHO für eine „Marionette“ Pekings und macht sie für die Ausbreitung des Coronavirus mitverantwortlich.

Auch die Welthandelsorganisation (WTO) wurde von Trump schwer getroffen und kämpft um ihr Überleben, eine US-Blockade lähmt ihr Berufungsgremium seit Monaten durch die Blockade der Ernennung von Richtern. Der US-Präsident warf der WTO wiederholt vor, China nicht für unlautere Handelspraktiken zur Rechenschaft zu ziehen und sieht sein Land durch das Zollsystem benachteiligt. Die Drohung, auch aus der „kaputten“ WTO auszusteigen, steht im Raum.

Der Internationale Strafgerichtshof wiederum, eine UNO-Institution, die Washington mitgestaltet hat, der es aber nie beigetreten ist, ist in Trumps Fadenkreuz geraten, nachdem sein Chefankläger eine Untersuchung darüber eingeleitet hat, ob US-Truppen möglicherweise Kriegsverbrechen in Afghanistan begangen haben. Trump antwortete mit einseitigen Sanktionen für „unrechtmäßige Versuche, Amerikaner seiner Gerichtsbarkeit zu unterwerfen“.

EU-Videokonferenz in Brüssel
Reuters/AFP/Yves Herman
Die EU scheitert in vielem an sich selbst

Trump ist aber keineswegs der Einzige, der das bisherige Regelwerk ignoriert: „Sogar das Vereinigte Königreich, das trotz seiner imperialen Vergangenheit seit langem Anspruch auf die moralische Überlegenheit erhebt, will eine Gesetzgebung durchboxen, die das Völkerrecht auf ‚spezifische und begrenzte Weise‘ brechen würde“, schrieb „Politico“. Die Zeitung bezieht sich dabei auf den Versuch Großbritanniens, einen Teil seines vor weniger als einem Jahr ratifizierten Vertrags über den Austritt aus der Europäischen Union außer Kraft zu setzen.

EU blockiert sich selbst

Und die EU strauchelt auch an anderen Fronten: Ungarn und Polen entfernen sich zunehmend von den Standards der Rechtsstaatlichkeit und richterlichen Unabhängigkeit. Die Versuche, eine gemeinsame Außenpolitik aufzubauen, werden durch das Einstimmigkeitsprinzip blockiert, jedes Land pocht auf seine, oft sehr unterschiedlichen, Forderungen. Als strukturell schwache Wirtschaftsmacht befindet sich die EU in der Defensive und kämpft darum, das zu erhalten, was von den globalen Abkommen noch übrig geblieben ist – wobei ihr durch ihr eigenes Entscheidungssystem oft die Hände gebunden sind.

Fraglos ist die Diplomatie durch die Möglichkeit von Non-Stop-Kommunikation und -nachrichten, Globalisierung und Soziale Netzwerke schon länger im Wandel begriffen – Staats- und Regierungschefs kommunizieren direkt miteinander und verordnen ihre Politik via Twitter, Botschaften verlieren ihre Bedeutung.

So offensichtlich wie während der derzeitigen Pandemie und der diesjährigen UNO-Vollversammlung war das aber nie, schrieb „Politico“: „Die Diplomatie – die Kunst der Überzeugungsarbeit, des schrittweisen Kompromisses und rechtlicher Vereinbarungen, um Streitigkeiten friedlich beizulegen und internationales Verhalten zu kodifizieren – bleibt in wachsender Gefahr zurück.“