Demonstranten halten ein Schild mit der Aufschrift Rettet Bars und Restaurants" in Marseille
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CoV-Hotspot Frankreich

Steigende Zahlen, steigender Unmut

Nach Spanien ist Frankreich derzeit das Land mit den meisten registrierten Coronavirus-Neuinfektionen in Europa. In direkter Folge verhängte die Regierung neue Restriktionen – unter anderem einen lokalen Lockdown für die Gastronomie in Marseille. Am Freitag gingen in Frankreichs zweitgrößter Stadt Hunderte gegen die als „Affront“ der Pariser Zentralregierung betrachteten Maßnahmen auf die Straße. Der Unmut gegen die Regierung steigt in Frankreich aber nicht nur in Marseille.

Gleichzeitig gab es in Frankreich einen neuen Rekord an gemeldeten Neuinfektionen. Binnen 24 Stunden wurden weitere 16.096 Menschen positiv getestet, wie die zentrale Gesundheitsbehörde am Donnerstagabend mitteilte. Das waren nochmals rund 3.400 Neuansteckungen mehr als beim bisherigen Höchststand am Samstag vergangener Woche.

Die neuen Regeln betreffen vor allem die Großstädte. So müssen in dem am stärksten von der neuen Ausbreitung betroffenen Marseille ab Samstag alle Bars und Restaurants schließen. In Paris, Bordeaux, Nizza und sieben weiteren Großstädten müssen Bars und Restaurants spätestens um 22.00 Uhr schließen. Zudem wurden Versammlungen von mehr als zehn Menschen etwa in Parks und auf Plätzen untersagt. Landesweit gilt überdies weiter eine Maskenpflicht in Unternehmen, Schulen und in öffentlichen Gebäuden und Verkehrsmitteln.

Pariser Kliniken verschieben OPs

Das Aufkommen sei im gesamten Land „beunruhigend“, so Regierungschef Jean Castex, der gleichzeitig an die gemeinsame „Verantwortung“ der Franzosen appellierte. „Eine Epidemie lässt nicht mit sich spielen“, warnte Castex laut französischen Medienberichten. Erklärtes Ziel sei es, eine Überlastung der Krankenhäuser zu vermeiden. Auf keinen Fall wolle er zu den rigorosen Ausgangsbeschränkungen zurückkehren müssen, wie sie von März bis Mai gegolten hatten, wie Castex weiter sagte.

Tatsächlich ist der Druck auf die Intensivstationen infolge der seit Wochen steigenden Infektionszahlen inzwischen so groß, dass die Pariser Krankenhäuser erneut nicht zwingend notwendige Operationen absagen. Ab dem Wochenende werden zunächst 20 Prozent der geplanten Operationen verschoben, wie die öffentliche Krankenhausgesellschaft Assistance publique-Hopitaux de Paris mitteilte.

„Kollektive Bestrafung“

Die Bürgermeisterin von Marseille, Michele Rubirola, kritisierte indes die Vorgangsweise der Regierung scharf. Dass Restaurants und Bars komplett schließen müssten, sei ohne jede Absprache entschieden worden, kritisierte Rubirola gegenüber dem Sender BFM TV. Das Rathaus forderte ein zehntägiges Moratorium. Es solle erst abgewartet werden, wie sich die Lage in der Stadt weiterentwickelt.

Der Präsident der Region Provence-Alpes-Cote d’Azur (PACA), Renaud Muselier, kündigte via Twitter an, er werde am Freitag per Einspruch rechtlich gegen die Schließung der Lokale vorgehen. Er hatte die Maßnahmen zuvor als „kollektive Bestrafung“ scharf kritisiert. Marseille liegt in der PACA-Region.

Restaurantbesitzer demonstrieren in Marseille mit Maske im Gesicht
AP/Daniel Cole
In Marseille gingen am Freitag Hunderte gegen die CoV-Maßnahmen auf die Straße

Zudem gingen am Freitag in Marseille Hunderte Gastronomen auf die Straße. Der regionale Arbeitgeberverband warnte in einer Erklärung vor einem „wirtschaftlichen Lockdown“, denn auch Fitnessstudios und andere Einrichtungen sind betroffen.

Einspruch aus Pariser Rathaus

Gesundheitsminister Olivier Veran hatte am Donnerstag angekündigt, dass für Marseille und das Überseegebiet Guadeloupe die „maximale Alarmstufe“ ausgerufen worden sei. Das bedeutet neben der Schließung von Bars und Restaurants auch, dass alle öffentlich zugänglichen Einrichtungen schließen müssen, sofern sie kein „strenges Gesundheitsprotokoll“ haben.

Die Regierung hatte zuletzt immer wieder betont, dass die gewählten Vertreter in den Regionen am besten wüssten, was zu tun sei. Auch in Paris zeigte man sich unzufrieden mit den Entscheidungen des Gesundheitsministers. In der Hauptstadt gilt nun eine „hohe Alarmstufe“.

Bürgermeisterin Anne Hidalgo sagte, sie sei kurzfristig informiert worden und nicht einverstanden – und legte aus diesem Grund auch formellen Einspruch ein. Hildago kritisierte insbesondere, dass Fitnessstudios und Sporthallen geschlossen bleiben müssen. Sport trage dazu bei, dass die Menschen ein „starkes Immunsystem“ hätten, merkte sie im Fernsehsender France 3 an.

Laut Experten nicht vergleichbare Zahlen

Experten weisen unterdessen darauf hin, dass die Infektionszahlen im März und April wegen der niedrigen Testkapazität nur einen Bruchteil der tatsächlichen Ansteckungen abbildeten und sich deshalb nicht mit den Zahlen seit Einführung der großflächigen Tests vergleichen lassen. Inzwischen werden mehr als 1,2 Millionen Tests wöchentlich gemacht, während im Frühjahr kaum Tests zur Verfügung standen.

Gesundheitsminister Veran räumte zudem Probleme mit den Testkapazitäten ein. Tatsächlich gebe es in einigen Städten Verzögerungen bei den Ergebnissen, sagte Veran vor dem französischen Senat. Doch sei der Stau bei der Auswertung der Tests „nicht für die neue Welle der Epidemie“ verantwortlich.

Premier (noch) ohne Coronavirus-App

Kritiker bemängeln indes, dass sich die Pannen bei der Übermittlung der Testergebnisse auf die Nachverfolgung von Kontaktpersonen auswirken. Auch die Coronavirus-App der Regierung entpuppte sich bisher als ein weitgehend zahnloses Mittel zur Unterbrechung der Ansteckungsketten.

Frankreichs Premier Jean Castex
APA/AFP/Ludovic Marin
Sorgt mit Eingeständnis für Erstaunen: Castex hat die CoV-App der Regierung noch nicht heruntergeladen

Zudem hat selbst Regierungschef Castex die App seiner eigenen Regierung noch nicht heruntergeladen. „Ja, ich dränge die Franzosen dazu, sie zu benutzen, aber ich selber tue es nicht.“ Der Premierminister begründete das damit, dass er seit seinem Amtsantritt im Juli nur noch wenig direkten Kontakt mit anderen Menschen habe und zum Beispiel die Metro nicht mehr benutze.