Person mit Mund-Nasen-Schutz auf dem Grand Place in Brüssel
Reuters/Yves Herman
Im EU-Spitzenfeld

Belgien bekommt CoV nicht in den Griff

Die Coronavirus-Zahlen steigen in weiten Teilen Europas deutlich. Ganz vorne dabei ist Belgien, das schon im Frühling mit der Situation zu kämpfen hatte. Die Politik lockerte trotz steigender Zahlen zuletzt die Regeln, Experten äußern sich skeptisch. Vor allem die EU-Drehscheibe Brüssel bekommt die Situation nicht unter Kontrolle – die Gründe dafür sind auch in den Besonderheiten der Hauptstadt zu suchen.

Mit knapp elfeinhalb Millionen Menschen hat Belgien etwas mehr Einwohnerinnen und Einwohner als Österreich – dabei ist der Staat gerade einmal so groß wie Wien, Niederösterreich und Oberösterreich zusammen. Wirft man einen Blick auf die aktuellen Zahlen Belgiens, wird sehr schnell offensichtlich, dass das Land besonders stark betroffen ist: Im Schnitt der letzten sieben Tage (Stand: Montag) gab es über 1.551 neue bestätigte Fälle täglich, rund 64 Menschen wurden jeden Tag ins Spital eingeliefert.

Ein Zahlenwert, bei dem Belgien mit weitem Abstand an der Spitze Europas liegt, ist die Zahl der Todesfälle in Zusammenhang mit dem Coronavirus – diese ist jedoch auch der belgischen Zählweise geschuldet. So werden nicht nur bestätigte, sondern auch mögliche Infektionen als Coronavirus-Todesfälle gezählt. Das betrifft vor allem Tote in Senioren- und Pflegeheimen.

„Starker Anstieg“ seit Ende August

Im Interview mit Zeit im Bild und ORF.at sagt Virologe Steven Van Gucht vom staatlichen Gesundheitsinstitut Sciensano, dass die Todesrate momentan relativ niedrig sei. Aber: „Im Gegensatz dazu sehen wir eine hohe Zahl an Infektionen und einen starken Anstieg seit Ende August, Anfang September“, so Van Gucht.

Belgien zwischen steigenden Zahlen und Lockerungen

Vor allem in Belgien steigen zurzeit die Coronavirus-Zahlen. Das Land nähert sich der Zahl von 10.000 mit oder an COVID-19-Verstorbenen. Im Sommer hat die Regierung Regeln angezogen, die sie gerade jetzt aber wieder lockert.

Das liege auch an den geografischen Gegebenheiten: „Es gibt viele Gründe für diesen Anstieg, wir sind natürlich ein besonders dicht besiedeltes Land und wir sind untereinander und zwischen den Städten und den Regionen sehr gut verbunden – und auch mit dem Rest Europas“, so der Experte.

Brüssel besonders stark betroffen

Eine Sonderrolle kommt dadurch vor allem Brüssel zu. Gerade hier ist der Anstieg momentan besonders stark: Innerhalb der letzten Woche wurden laut dem französischsprachigen Rundfunk RTBF über 2.200 neue Fälle gemeldet, das sind über 700 mehr als in der Woche davor.

Virologe Steven Van Gucht
ORF.at/Florian Bock
Experte Steven Van Gucht sieht auch Belgiens Besonderheiten für die Situation mitverantwortlich

Van Gucht sieht hier einen Faktor mitverantwortlich, der sich auch in Österreich bemerkbar gemacht hat: „Tausende Menschen sind aus dem Urlaub und aus ihren Heimatländern nach Brüssel und in die anderen Regionen Belgiens zurückgekehrt, das hatte große Auswirkungen.“ Darüber hinaus „wird in Belgien viel getestet. Das macht es schwierig, Zahlen zwischen den Ländern zu vergleichen.“ Tatsächlich wurden laut offiziellen Zahlen täglich durchschnittlich 36.000 Tests gemeldet – in Österreich waren es zuletzt rund 16.000.

Auch Armut spiele eine Rolle, so der Virologe. „Armut ist definitiv ein Aspekt, der eine Rolle spielt, denn wir sehen die höchsten Infektionsraten in den ärmsten Gegenden unserer größeren Städte.“ Neben Brüssel sieht er auch Antwerpen besonders stark betroffen. In manchen Gegenden würden „viele Menschen auf wenig Raum“ leben. Das sei ein besonders großes Problem, für das es „keine Wunderlösungen“ gebe.

Regeln in Belgien gelockert, Brüssel schärft nach

Zuletzt hat die belgische Politik dennoch die Regeln gelockert: Bisher war etwa das Tragen eines Mund-Nasen-Schutzes (MNS) überall in der Öffentlichkeit verpflichtend – schon diese Woche gilt die Pflicht nur noch für Orte mit großem Andrang. Auch die vielleicht markanteste belgische Maßnahme wird aufgeweicht. Die „Bubble“ sah vor, dass man pro Haushalt nur mit fünf Menschen engeren Kontakt pflegen darf – künftig darf jedes Haushaltsmitglied mit bis zu fünf Personen Kontakt haben.

Arbeiter bringen ein Schild mit dem Hinweis auf die Mund-Nasen-Schutzpflicht an
APA/AFP/BELGA/Benoit Doppagne
In Brüssel war es bisher verpflichtend, Masken auch auf der Straße zu tragen

Einzig in Brüssel wurde vergangene Woche nachgeschärft. Die Regionalregierung beschloss in einer Krisensitzung die Vorverlegung der Sperrstunde für Lokale auf 23.00 Uhr, auch Versammlungen zu später Stunde wurden stark eingeschränkt. Und: Essen darf auf Märkten nicht mehr direkt konsumiert werden.

Van Gucht sagt, dass man in Belgien auf „lokale Maßnahmen“ setze: Man könnte so etwa in Brüssel andere Vorschriften für das Tragen der Maske festlegen, wenn es dort „größere Probleme“ gebe. Das könne zwar „nützlich“ sein, aber: „Ich glaube, das löst nur einen kleinen Teil des Problems.“ Darüber hinaus brauche es einen „integrierten Ansatz“ bei der Kommunikation, um etwa zu erklären, warum diese Maßnahmen notwendig seien. Und man müsse den Leuten helfen, wenn sie dazu gezwungen sind, sich zu isolieren, so Van Gucht.

„Schweigestreik“ der Experten

Expertinnen und Experten sehen die Lage in Belgien jedenfalls skeptisch. Am Wochenende traten einige Fachleute in einen „Schweigestreik“: Sie vertreten die Meinung, dass sich die Politik zu oft hinter den Experten verstecke, und gaben deshalb in den vergangenen Tagen keine Interviews, wie der flämische Rundfunk VRT berichtete.

Gegenüber dem Sender sagte der Medizinphilosoph Ignaas Devisch, dass er eine „Verschärfung der Debatte“ bemerke: „Es mangelt an politischer Führung, Experten werden schlecht behandelt. Wir brauchen dringend Gelassenheit.“ Außerdem führe „die Kluft zwischen Empfehlungen und politischen Entscheidungen zu sozialem Chaos“, so Devisch gegenüber VRT.

Ein politischer Zusammenhang ist jedenfalls nicht ganz auszuschließen: Die derzeitige Regierungschefin Sophie Wilmes ist Teil einer Notfallregierung, die Regierungsbildung läuft bereits seit 16 Monaten. Eine Koalition zeichnet sich mittlerweile ab, in den nächsten Tagen könnte sich bereits entscheiden, ob diese zustande kommt. Die Erfahrung aus anderen Ländern zeigt, dass politische Entscheidungen einen spürbaren Einfluss auf die Entwicklung der Pandemie haben können – für Belgien ist eine Regierung, die nicht nur per Dekret handelt, wohl auch wesentlich, um die Coronavirus-Situation in den Griff zu bekommen.