60 Prozent der Wienerinnen und Wiener leben im geförderten Wohnbau. Ungefähr eine halbe Million lebt in einem Gemeindebau. Das wird weltweit als Besonderheit betrachtet. „Um den sozialen Wohnbau wird Wien von vielen Städten auf der ganzen Welt beneidet“, so Stadtforscherin Yvonne Franz vom Institut für Geographie und Regionalforschung der Uni Wien im Gespräch mit ORF.at.
Noch bis Ende dieses Jahres will Wien 24.000 geförderte und 4.000 Gemeindewohnungen schaffen. „Wir bauen wirklich in der ganzen Stadt“, zählt SPÖ-Gemeindestadträtin Kathrin Gaal einige Beispiele auf. „Im Süden, im Norden, im Osten, im Westen, diesseits wie jenseits der Donau, aber auch in innenstädtischer Lage wie etwa auf dem Areal des ehemaligen Sophienspitals, wo im siebten Bezirk gerade 180 geförderte Wohnungen und ein Gemeindebau neu entstehen.“
Darüber hinaus gibt es fortlaufende Megaprojekte wie die Seestadt Aspern und brandneue Pläne wie das Stadtentwicklungsgebiet Nordwestbahnhof im 20. Bezirk, das derzeit noch als Frachtenbahnhof genutzt wird. Ab 2024 soll auf dem Areal ein neuer Stadtteil entstehen mit zehn Hektar Grünraum, 5.000 Arbeitsplätzen, 6.500 Wohnungen. In den Bezirken Landstraße, Meidling, Penzing, Favoriten, Simmering, Floridsdorf, Donaustadt und Liesing entstehen weitere Projekte. Wo kein Platz mehr zum Bauen ist, wird verdichtet. „Sanfte Verdichtung“, nennt man das im Fachjargon. Gemeint ist damit etwa, neuen Wohnraum in Dachgeschoßen zu schaffen.
Nicht wie Brooklyn
Es sei das Potpourri an verschiedenen Akteurinnen und Akteuren – die Stadtverwaltung, gemeinnützige Genossenschaften und private Investorinnen und Investoren – die Wien von den bekannten Gentrifizierungsbeispielen wie Brooklyn in New York, Berlin-Mitte oder East London unterscheiden, erklärt Stadtgeografin Franz die Situation in Wien.
Gentrifizierung
Gentrifizierung, auch Gentrifikation kommt vom Englischen „gentry“ („niederer Adel“). Der Begriff meint den sozioökonomischen Strukturwandel innerstädtischer Viertel durch Attraktivitätssteigerung zugunsten zahlungskräftiger Wohnbevölkerung.
Gentrifizierung beschreibt Prozesse, bei denen Kunst- und Kulturschaffende, aber auch Studierende in preisgünstige Nachbarschaften ziehen. Gegenden durchlaufen Veränderungen, neue Bars, Lokale und Geschäfte eröffnen. Durch diese Atmosphäre angezogen, folgen monetär Bessergestellte, steigende Preise sind zu beobachten. Haushalte mit geringerem Einkommen können sich die Gegend nicht mehr leisten.
Umfrage: Junge sorgen sich ums Wohnen
Eine aktuelle Umfrage des Instituts für Jugendkulturforschung fand heraus, dass fast 70 Prozent der 800 befragten Jugendlichen der Auffassung sind, die Reichen in Österreich würden immer reicher und die Armen immer ärmer. Gerade junge Wienerinnen und Wiener würden materielle Themen wie Einkommen, Arbeitsplatz, Sicherheit und Wohnen stark beschäftigen, schlussfolgert das Institut.
Unbegründet ist diese Sorge wohl nicht. So sei international zu beobachten, dass bei der Aufwertung von Stadtvierteln, die Wohlhabenderen die weniger Wohlhabenden verdrängen, sagt Franz. Doch sei es für die Analyse von Stadtentwicklungsprozessen immer wesentlich, die „lokalen Faktoren“ in den Fokus zu stellen. Ob es in Wien also Gentrifizierung per definitionem gebe oder nicht, könne deshalb nicht eindeutig mit Ja oder Nein beantwortet werden.

„Indirekte Gentrifizierung“ in Wien
„Nein – wenn wir das mit New York, Paris und London vergleichen, denn diese Städte haben einen deutlich marktliberaleren Kontext als Wien“, begründet die Stadtforscherin und erläutert anhand eines Beispiels: „Williamsburg (Stadtteil in Brooklyn, New York, Anm.) hat sich enorm rasch entwickelt. Nachdem die Deindustrialisierung vollzogen war, die großen Fabriken an der Waterfront geschlossen hatten, lagen die Industrieflächen brach. Die Pioniere, wie wir sie nennen, haben sich diese Orte kreativ angeeignet, und so ist eine Subkulturszene entstanden.“ Danach seien die Planungsmaßnahmen der Stadt gefolgt, „weil hier Stadtentwicklung in zentraler Lage im Schulterschluss mit privaten Investorinnen und Investoren möglich war“, erklärt Franz.
Doch gebe es auch noch die andere Seite, die nicht von der Hand zu weisen sei. Denn eine Aneignung günstigerer Flächen durch die „Pioniere“ finde auch in Wien statt bzw. habe bereits stattgefunden – in der Vergangenheit zu beobachten etwa in Wien-Mariahilf, im Karmeliterviertel in der Leopoldstadt und im Ottakringer Brunnenmarkt-Viertel. Grätzel, die längst nicht mehr zu den günstigen in Wien gehören.
Es sei jedoch die „starke öffentliche Hand“ in Wien, so Franz, die zumindest die rasche Verdrängung – wie etwa in Williamsburg – bremsen könne. Die Stadtforschung spricht daher von „indirekter Gentrifizierung“ sowie „exkludierenden Mechanismen“. Franz erwähnt außerdem, dass mit Veränderungsprozessen in der Stadt nicht nur Wohnen gemeint ist. Auch Grünräume, die vor zunehmender Hitze durch die Klimaerwärmung schützen können, Arbeitsmarkt- und Bildungszugang, Nahversorgung, medizinischer Zugang und kulturelles Angebot sind wesentliche Teilaspekte für Zugehörigkeit in der Stadt – nicht zuletzt „die persönliche Wahrnehmung“, so die Stadtforscherin.
Wohnen wird teurer
Freilich heißt all das nicht, dass die Wienerinnen und Wiener vor Verteuerung im Wohnbau gefeit sind, denn statistisch gesehen wird das Wohnen für alle in Wien lebenden Menschen immer kostspieliger – sowohl beim Eigentum als auch bei der Miete. Letzteres betrifft ein Gros der Wienerinnen und Wiener, denn die Eigentumsquote beträgt in der Hauptstadt nur rund 20 Prozent.

Laut Arbeiterkammer stiegen die Mietpreise seit 2008 in Wien im Schnitt um 55 Prozent. Die Mietsteigerungen waren laut AK der überproportionalen Erhöhung der Nettomieten geschuldet. Dabei zeigt sich außerdem, dass vor allem Wohnungen, die von privaten Unternehmen, Eigentümerinnen und Eigentümern vermietet werden, extrem stark im Mietpreis zulegten. Mietobjekte von gemeinnützigen Bauvereinigungen und Gemeinde hingegen konnten den allgemeinen Anstieg etwas abdämpfen.
Ein Dilemma in Sachen Wohnraum, mit dem die Stadt dennoch zu kämpfen hat, ist laut einer Erhebung aus 2015, dass rund 10.000 Wohnungen langfristig leer stehen. 25.000 Wohnungen werden von der Stadt zudem als vorübergehend ungenutzt eingeschätzt. Wohnungen als Anlageprodukt, die also nicht zum Wohnen, sondern zur Spekulation gekauft werden, treiben Immobilienpreise in die Höhe.
„Veränderung heißt, mit der Realität mitzugehen“
Für den Wohnungsmarkt in Wien herausfordernd sei, sagt Franz, dass bei Weitem nicht alle Zugang zum sozialen Wohnbau haben: „Da sprechen wir etwa von Studierenden, die aus den Bundesländern oder international zuziehen und von anderen jungen Menschen, die sich noch in der Ausbildung befinden.“ Wichtig zu betonen seien außerdem alle weiteren Zuwanderinnen und Zuwanderer insbesondere aus dem EU-Raum, für die erst einmal kein Zugang bestehe. Derzeit werden Menschen, die schon länger in Wien gemeldet sind, bei der Vergabe von Gemeindewohnungen bevorzugt – ein Zankapfel im Wien-Wahlkampf, da nicht alle Parteien mit der derzeitigen Art der Vergabe einverstanden sind – mehr dazu in wien.ORF.at.
TV-Hinweis
Das „Weltjournal“ behandelt am Mittwoch um 22.30 Uhr in ORF2 das Thema „Teures Wohnen – Spekulation auf Kosten der Mieter“.
Und wie sieht das die Wissenschaft? „Die Frage aus Sicht der Stadtforschung ist: Wie schaffen wir es, eine sozial inklusive Stadt zu gewährleisten?“, so Franz. Diversifizierung sei komplex, aber ein Prozess, der passiere – und so passiere auch Veränderung, meint die Stadtgeografin. Die Frage sei nur, ob eine Stadt ihr gegebenes Potenzial nutze: „Veränderung ist ein gutes Zeichen, denn das heißt, dass eine Stadt die Kapazität hat, mit der Realität mitzugehen.“