Bundespräsident Alexander Van der Bellen anlässlich des Festakts „100 Jahre Bundesverfassung“ in Wien
APA/Bundesheer/Peter Lechner
Festakt zum Jubiläum

„Augenmaß“ bei Einschnitten im Grundrecht

Bundespräsident Alexander Van der Bellen hat am Donnerstag beim Festakt zum 100-jährigen Bestehen des Bundes-Verfassungsgesetzes zu „Augenmaß und Umsicht“ bei den wegen der Pandemie nötigen Einschränkungen von Grundrechten gemahnt. Verfassungsministerin Karoline Edtstadler (ÖVP) versicherte, dass Politiker nach bestem Wissen und Gewissen im Auftrag und Interesse des Volkes handeln.

Die „dramatische“ Einschränkung verfassungsrechtlicher Grund- und Freiheitsrechte wegen der Pandemie „war und ist eine Zumutung. Eine notwendige Zumutung, leider“, stellte Van der Bellen fest. Auch in nächster Zukunft werde man, „so fürchte ich, noch heikle Entscheidungen treffen müssen“, was die Beschränkung von Freiheiten zum Schutz vor dem Coronavirus betrifft.

Dabei gelte es abzuwägen, „wie viel Freiheit wir bereit sind aufzugeben, um, wie jetzt im Fall von Covid, unsere Gesundheit zu schützen“ – und was noch zumutbar ist, auch mit Blick auf die Wirtschaft. In dieser Abwägung zwischen den Grundrechten gelte es, „nie das richtige Außenmaß zu verlieren, weder in die eine noch in die andere Richtung“. Darauf werde er „sorgsam und penibel achten“, versicherte der Bundespräsident.

Publikum während des Festaktes zu 100 Jahre VfGH
Parlament
Beim Festakt zum 100-Jahr-Jubiläum des Bundes-Verfassungsgesetzes verlangte Van der Bellen CoV-Maßnahmen mit „Augenmaß“

„Verfassung hat Aufgabe hervorragend erfüllt“

Van der Bellen begrüßte den „mittlerweile“ breiten politischen Konsens, dass Einschränkungen nur so lange wie unbedingt notwendig gelten dürfen. Das „richtige Augenmaß“ gebiete auch der Respekt vor der Verfassung. Denn niemand könne bestreiten, dass „unsere Verfassung ihre Aufgabe als Basis des staatlichen Geschehens und als Wahrerin der Grundrechte in den 100 Jahren ihres Bestehens hervorragend erfüllt hat“.

Das meine er mit „Eleganz der Verfassung“, erinnerte Van der Bellen an sein Lob der Verfassung in der „Ibiza-Krise“ im Vorjahr – dass sie „die Lösung der Regierungskrise ohne interpretatorische Kunststücke, allein aufgrund des klaren Wortlautes ermöglicht“. Die Verfassung habe sich im Mai/Juni 2019 als „hervorragender Wegweiser durch eine in der Zweiten Republik noch nie da gewesene Situationen erwiesen“.

Sobotka: Digitalisierung in Verfassung abbilden

Eine „große Herausforderung“ in der Weiterentwicklung der Verfassung sieht aber Nationalratspräsident Wolfgang Sobotka (ÖVP): Es werde notwendig sein, die Digitalisierung zu verrechten, auch in der Frage des Datenschutzes.

Schließlich seien Zweifel, „wenn wir heute unsere Daten im Restaurant abgeben müssen, berechtigt“. Aber die Verfassung werde jedenfalls weiter Bestand haben – als Basis für Demokratie, Föderalismus und Rechtsstaat.

Edtstadler: Politiker sind dem Volk verpflichtet

Verfassungsministerin Edtstadler „versicherte“ in ihrer Rede, dass die Verfassung sicherstelle, dass die Politik dem Willen der Bürger folge – auch wenn Entscheidungen und Kommunikation in Krisenzeiten „noch schwieriger“ seien. Denn laut Artikel 1 B-VG geht das Recht vom Volk aus, „und die Politik muss dem Recht folgen“.

Verfassungsministerin Karoline Edtstadler (ÖVP) während des Festaktes zu 100 Jahre VfGH
Parlament

Bürgerinnen und Bürger seien durch Verfassung und Demokratie auch verpflichtet, so Edtstadler – nämlich ihre Freiheiten und Rechte zu nutzen, um die Gemeinschaft zu gestalten und weiterzuentwickeln. Der Schutz der Freiheitsrechte in der Verfassung bedeute nicht, dass „wir all unserer Eigenverantwortung entledigt sind“. Im Gegenteil: Die Verfassung ziele nicht auf einen „Vollkasko-Staat“ ab, Gesetze könnten nie jeden Lebensbereich bis ins kleinste Detail regeln – „auch wenn gerade in Krisenzeiten das Bedürfnis danach besonders groß ist“.

„Kehrseiten der Digitalisierung“

Edtstadler sprach auch eine aktuelle Gefahr für die Demokratie an – nämlich die „Kehrseiten der Digitalisierung“ wie Desinformation und Hass im Netz. Es gefährde die Demokratie, „wenn die Menschen die Welt nur noch in begrenzten Filterblasen wahrnehmen und die Meinung nur in der eigenen Echokammer reflektieren“.

Das Recht auf Meinungsäußerungsfreiheit samt Kritik an der Politik bestehe „zweifellos“. Aber das begründe nicht „das Recht auf eigene Fakten“. „Es ist unsere gemeinsame Verantwortung, Anstrengungen für Faktentreue und Objektivität im neuen Medienpluralismus zu unternehmen“, so Edtstadler, „es liegt an uns, unsere Verfassung vor Missbrauch dahingehend zu schützen“.

Bierlein: Verfassung „eindeutig krisenfest“

Die Verfassung sei nach wie vor krisenfest, stellten die frühere VfGH-Präsidentin und Kanzlerin Brigitte Bierlein, Parlamentsdirektor Harald Dossi und der Rechtshistoriker Thomas Olechowski unisono fest. Grundsätzliche Änderungen hielten sie nicht für nötig.

Bierlein sagte, sie erachte sowohl die Verfassung als auch die Institutionen für „eindeutig krisenfest“. Das hätten Entscheidungen des Verfassungsgerichtshofs immer wieder gezeigt. Auch die Pandemie habe – nach anfänglichen Problemen aufgrund des großen Zeitdrucks für gesetzliche Regeln – nicht zur Krise geführt: „Es ist keine Krise, es wird keine Krise geben, unser Rechtsstaat ist sehr gut aufgestellt“, sagte Bierlein. Die Situation sei zwar für alle „sehr, sehr schwierig“, aber keine Gefahr für den Rechtsstaat.

Für Parlamentsdirektor Dossi hat sich aus der CoV-Zeit im Frühjahr ein Änderungswunsch ergeben: Man sollte für „extreme Ausnahmesituationen“ erlauben, für die parlamentarische Arbeit auch die digitalen Möglichkeiten zu nutzen – um zu verhindern, dass das Parlament wegen Erkrankung oder Quarantäne vieler Abgeordnete nicht beschlussfähig ist und somit das Notverordnungsrecht des Bundespräsidenten zum Einsatz kommen muss. Aber sowohl in der jetzigen Krisenzeit als auch im Vorjahr bei der „Ibiza-Regierungskrise“ habe sich erwiesen, dass die Verfassung „grundsätzlich sehr gut geeignet ist“ als Basis der politischen Arbeit.

„Unglaublich hohes rechtsstaatliches Niveau“

Für Olechowski hat gerade die – teils mit Kritik und Spott bedachte – vom VfGH angeordnete Wiederholung der Bundespräsidentenwahl 2016 bewiesen, dass Österreich mit seiner Verfassung ein „unglaublich hohes rechtsstaatliches Niveau“ hat – weil die Wahl aufgehoben, das VfGH-Erkenntnis von allen Betroffenen akzeptiert und die drei Urnengänge durchgeführt wurden, um eine „lupenrein demokratische Wahl“ sicherzustellen.

Dem immer wieder vorgebrachten – und auch beim Österreich-Konvent nicht gelösten – Verlangen nach einer neuen Kompetenzverteilung zwischen Bund und Ländern und einem Grundrechtskatalog trat Olechowski entgegen. Daran seien die Verfassungsschöpfer rund um Hans Kelsen schon 1920 gescheitert, „nicht ohne Grund“. Die Bereitschaft zu großen Veränderungen habe es immer nur bei Druck von außen, etwa nach Kriegsniederlagen, gegeben. „Das wünsche ich mir nicht“, meinte der Rechtshistoriker, die Verfassung habe sich gut bewährt, da müsse man „nicht unbedingt etwas vom Zaun brechen“.

Dem stimmten auch Dossi und Bierlein zu. Die frühere VfGH-Präsidentin verwies darauf, dass die Grundrechte auch ohne einheitlichen Katalog „sehr gut abgesichert“ und durch die VfGH-Judikatur sichtbar gemacht und gewährleistet seien – „der Mangel ist nicht so groß“. Der Verfassung könne man zum 100. Geburtstag also wünschen, dass sie „weiter Bestand hat und die Menschen wissen, dass sie in einem hervorragend geführten Rechtsstaat mit hervorragenden Institutionen leben, in dem ihre Grundrechte gewahrt werden“.

Auch Ablauf im Zeichen der Pandemie

Nicht nur die Grußworte beim 100-Jahr-Festakt des Parlaments standen im Zeichen der Pandemie, auch die Veranstaltung selbst: In die Nationalbibliothek war nur eine beschränkte Zahl von – mit Mund-Nasen-Schutz und großem Abstand auf fix zugewiesenen Sitzplätzen im Raum verteilten – Teilnehmerinnen und Teilnehmern geladen. Begrüßt wurden unter anderen Vizekanzler Werner Kogler (Grüne), Kardinal Christoph Schönborn, VfGH-Präsident Christoph Grabenwarter und Rechnungshof-Präsidentin Ingrid Kraker.