EU-Ratspräsident Charles Michel  mit Mund-Nasen-Schutz
Reuters/Olivier Hoslet
EU-Gipfel

Grünes Licht für Weißrussland-Sanktionen

Die lange Blockade der Sanktionen gegen Weißrussland ist beendet: Die Staats- und Regierungschefs der EU haben in der Nacht auf Freitag auf dem EU-Sondergipfel eine Einigung in der eng verknüpften Türkei-Frage erzielt. Damit ist auch der Weg für Sanktionen gegen Minsk frei. Zypern, das bisher eine Einigung ablehnte, lenkte ein.

Kurz vor 1.00 Uhr verdichteten sich in Brüssel die Gerüchte, dass eine Einigung zustande gekommen ist – obwohl es bis dahin nicht danach ausgesehen hatte. Ratschef Charles Michel sagte bei einer Pressekonferenz, dass man eine Lösung für die Türkei-Frage gefunden habe.

Er bezeichnete das vereinbarte Vorgehen als „doppelte Strategie“: Einerseits gehe es darum, dem politischen Dialog eine Chance zu gewähren. Andererseits verlangt man von der Türkei höheren Einsatz – man solle Brüssel auf halbem Weg treffen. Spätestens im Dezember würden die EU-Staats- und -Regierungschefs über die Beziehungen zur Türkei Bilanz ziehen. Ankara müsse „die Provokationen und den Druck“ beenden, so Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen. „Im Falle solcher erneuter Aktionen durch Ankara wird die EU alle ihre Instrumente und Optionen nutzen“, sagte sie.

Europagebäude  in Brüssel bei Nacht
ORF.at/Florian Bock
Im Europagebäude kamen die Staats- und Regierungsspitzen zusammen

Keine Sanktionen gegen Lukaschenko

Damit ist nun auch der Weg für Sanktionen gegen Weißrussland frei. Diese sollen laut Michel sofort in Kraft treten. Nach der Einigung werde umgehend ein schriftliches Verfahren für den formellen Beschluss folgen, so Michel. Das sei ein klares Signal der Glaubwürdigkeit der EU. Von der Leyen ergänzte, sie sei froh, dass der Weg für die Sanktionen nun endlich frei sei.

Konkret wird es Sanktionen gegen 40 hochrangige weißrussische Funktionäre geben. Doch Staatschef Alexander Lukaschenko befindet sich „nicht auf der derzeitigen Liste“, so Michel. „Aber wir werden die Entwicklungen verfolgen.“

Weißrussland reagiert mit Einreiseverboten

Am Freitag reagierte Weißrussland mit Vergeltungsmaßnahmen. „Ab heute“ werde eine „Liste mit reziproken Sanktionen“ gelten, so das Außenministerium in Minsk. Darauf befinden sich Personen, die nicht mehr in das Land einreisen dürfen. Diese Liste werde allerdings nicht veröffentlicht.

Einigung beim EU-Sondergipfel

ORF-Korrespondent Peter Fritz berichtet über die bisherigen Ergebnisse des EU-Gipfels.

Kurz sieht gutes Ergebnis

Die deutsche Kanzlerin Angela Merkel (CDU) begrüßte die Einigung als „großen Fortschritt“. Die Staats- und Regierungschefs hätten eine „umfangreiche, manchmal auch schwierige Diskussion“ geführt, sagte sie nach den mehr als neunstündigen Beratungen. „Aber wir haben uns zusammengerauft.“ Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP) zeigte sich in einem kurzen Statement nach dem ersten Gipfeltag zufrieden mit dem Ergebnis. Erstmals gebe es „klare Sanktionsdrohungen in Richtung der Türkei“, so der Kanzler. Es sei ein „wichtiges Zeichen der Solidarität gegenüber Griechenland und Zypern“, gleichzeitig könne Europa der Türkei zeigen, dass man entschlossen reagiere.

Im Hinblick auf andere Staaten, die Sanktionen gegen die Türkei eigentlich ablehnten, sagte er, dass „auch die Länder, die traditionell viel Verständnis gegenüber der Türkei“ haben, „eingesehen“ hätten, dass Ankara „mehrfach rote Linien überschritten“ habe.

Positiv reagierte auch Griechenland. „Wir sind vollkommen zufrieden mit den Gipfelerklärungen“, sagte Regierungschef Kyriakos Mitsotakis am Freitag. „Die EU hat gestern eine klare Botschaft der Einheit, Solidarität und Entschlossenheit gesendet.“

Mehrere Entwürfe

Es war ein langer Tag in Brüssel – und eine Einigung zeichnete sich bis in die späten Abendstunden nicht ab. Kurz sagte, dass ein erster Textentwurf, der dem Rat vorgelegt worden sei, nicht nur für Zypern, sondern etwa auch für Griechenland und Österreich nicht akzeptabel gewesen sei. Schon im Laufe des Abends berichtete „Politico“, dass die Forderungen im ersten Entwurf einigen Ländern nicht weit genug gingen.

Positionen lagen weit auseinander

Die Positionen der Mitgliedsstaaten klafften zu Beginn weit auseinander, wie schon im Vorfeld des Gipfels offensichtlich wurde. Merkel etwa machte sich für ein „konstruktives“ Verhältnis mit der Türkei stark – also tendenziell ohne Sanktionen. Im Kontrast dazu stand etwa die Position Österreichs.

Kurz sagte im Vorfeld, dass er es für „notwendig“ halte, dass die EU „nicht wegsieht“, sondern „klar reagiert“. Die EU müsse dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan „rote Linien“ aufzeigen. Das bedeute den „Abbruch der Beitrittsverhandlungen“ sowie das „Agieren mit Sanktionen gegenüber der Türkei“.

Türkei weist Sanktionsdrohung zurück

Die Türkei wies die Sanktionsdrohung der EU zurück. „Die Sprache der Sanktionen zu verwenden ist nicht konstruktiv“, erklärte das türkische Außenministerium am Freitag. Die EU müsse begreifen, dass sie auf diese Weise nichts erreichen werde.

Erdogan selbst holte vor dem Gipfel gegen die EU aus. „Die Europäische Union ist als Geisel der Frechheiten Griechenlands und der griechischen Zyprioten zu einem einflusslosen und oberflächlichen Gebilde ohne Weitblick verkommen.“ Es gebe kein einziges Problem in der Region, das auf Initiative der EU gelöst worden sei. Vielmehr hätten Interventionen der Union Krisen nur vergrößert.

Nawalny: Michel spricht von „militärischen Chemiewaffen“

Zu den weniger umstrittenen Themen des Abends zählte unterdessen die Causa um den vergifteten Kreml-Kritiker Alexej Nawalny. „Wir verurteilen den Einsatz einer militärischen Chemiewaffe“, so Michel. Die EU-Staats- und -Regierungschefs rufen zu einer Untersuchung des Anschlags in Russland auf.

Am Freitag behandelt der Gipfel mit dem Thema China eine weitere außenpolitische Frage, auch einige wirtschaftliche Themen stehen auf der Tagesordnung. Schon in zwei Wochen, am 15. Oktober, treffen die Staats- und Regierungschef zu ihrem nächsten – regulären – Gipfel zusammen.