In ihrer für viele Experten überraschenden Entscheidung erklärte die Schwedische Akademie am Donnerstag in Stockholm, damit werde die „unverwechselbare poetische Stimme“ der 77-Jährigen gewürdigt. Mit ihrem literarischen Schaffen mache die US-Autorin die individuelle Existenz zu einer universellen Erfahrung.
Glück wird gemeinhin als autobiografische Poetin bezeichnet. Ihr Werk ist durch seine emotionale Intensität und seine Bezüge zur Mythologie, zur Geschichte und zur Natur gekennzeichnet – immer in Hinblick auf persönliche Erfahrungen und die gesellschaftliche Gegenwart. Den Pulitzer-Preis hatte sie 1993 für „The Wild Iris“ gewonnen, eine ihrer zwölf Gedichtsammlungen, zu denen auch das gefeierte Werk „Faithful and Virtuous Night“ zählt.
New Yorkerin mit Unikarriere
Glück wurde in der Stadt New York geboren und wuchs auf Long Island auf. Eine Anorexieerkrankung als Jugendliche arbeitete sie später in ihrem Werk auf. Nach ihrem Universitätsabschluss arbeitete sie als Autorin und machte eine akademische Karriere als Lyrikprofessorin an verschiedenen anerkannten US-Universitäten. Momentan lebt sie in Cambridge im Bundesstaat Massachusetts und unterrichtet an der Yale University.
Ihre Anorexie bezeichnete Glück in Essays als Reaktion auf den Emanzipationsprozess von ihrer Mutter, zu der sie eine schwierige Beziehung hatte. In einer frühen Psychotherapie wurde auch die Rolle einer älteren Schwester, die bereits vor der Geburt Glücks gestorben war, herausgearbeitet. In jungen Jahren als angehende Lyrikern verbrannte das Haus, in dem sie lebte. All diese Erfahrungen empfand sie als traumatisch. Oft geht es in ihren Werken auch um die Themen Isolation und Einsamkeit.
Trauma und Resilienz
Trotz der Einsamkeit, die Glück stets innerlich empfand, strich sie in ihren Essays und Gedichten immer wieder ihre Resilienzfähigkeit hervor. Auch als sich nach der Veröffentlichung ihres ersten Gedichtbandes sogleich eine lange anhaltende Schreibblockade einstellte, gab sie die Hoffnung auf ihren Erfolg nicht auf. Einige ihrer Gedichte galten schon bald als „Anthologie-Erfolge“, weil sie so oft in Gedichtsammlungen abgedruckt wurden.
Der Literaturwissenschaftler Daniel Morris schreibt in „The Poetry of Louise Glück: A Thematic Introduction“, dass Glück, selbst wenn sie idyllische Szenerien beschreibt, immer auch auf die Hinfälligkeit des Menschen und auf den Verlust der Unschuld verweist. Trauma und Verlust, zwei Hauptmotive Glücks, werden von ihr aber immer auch als Chancen auf Neuanfang verstanden. So heißt es etwa in ihrem Gedicht „The Empty Glass“ aus dem Jahr 2001:
„And it occurs to me that what is crucial is to believe
in effort, to believe some good will come of simply trying,
a good completely untainted by the corrupt initiating impulse
to persuade or seduce– (…)“
„Hellsichtig, anspruchsvoll, bedeutend“
In Kindlers Literaturlexikon (Stand 2010) wird Glück in höchsten Tönen gelobt: „In vier Jahrzehnten veröffentlichte Louise Glück über 350 Gedichte, deren intellektueller Anspruch und formale Virtuosität sie als eine der hellsichtigsten, anspruchvollsten und bedeutendsten Lyrikerinnen der US-amerikanischen Gegenwartsliteratur ausweisen. So zählen etwa ihre Gedichte zu Themen und Figuren der klassischen Mythologie zu dem Besten, was in diesem Bereich in den USA geschrieben wurde. In einer täuschend einfachen, aber technisch präzisen Sprache lotet ihr Œuvre jenen Grenzbereich aus, in dem Kontingenz und Prädestination, Zufall und Schicksal, Freiheit und Notwendigkeit nicht mehr treffsicher voneinander zu unterscheiden sind.“
Von Bekenntnisdichtung zur mythologischen Umdeutung
Danach werden verschiedene Phasen in Glücks Schaffen herausgearbeitet. In ihren Anfängen habe sie jugendliche Bekenntnisdichtung geschrieben mit den Themen Familie, Kindheit und Adoleszenz, wobei sie schon damals auf die kollektive Relevanz individuellen Leidens verwies. Auch nach einer poetologischen Neuorientierung blieb sie ihren Themen im Grunde treu, obwohl sie nun eher den Projektcharakter ihrer Gedichte über Schaffensphasen hinweg mit zahlreichen Querbezügen in den Vordergrund stellte und „formal strenge, aber atmosphärisch einfühlsame“ Gedichte über den Symbolcharakter der Natur schrieb, etwa die Vergänglichkeit der Blumen in Bezug setzte zur Vergänglichkeit der Menschen.
Zu weltweiter Berühmtheit in lyrikaffinen Kreisen brachte sie es dann schließlich durch ihre Aktualisierung klassischer Mythen und symbolhafte Umdeutung mythologischer Stoffe wie Homers Odyssee, quer durch die Bände „Meadowlands“, „Vita Nova“, „The Seven Ages“ und „Averno“. In Kindlers Literaturlexikon ist von der Freilegung von Bedeutungsgeschichten die Rede:
„Letztlich sind es die großen Menschheitsthemen, die Glücks lyrischen Werken Gewicht und Substanz verleihen: das problematische Verhältnis zwischen Natur und Kunst, das Verzweifeln am uneigentlichen Leben, Dauer im Wechsel, die Einsamkeit im Miteinander und die Suche nach Trost und Schönheit in einer gefallenen Welt.“
Künstlerische Erfolge liegen in der Familie
Glück ist Mutter eines Sohnes, der heute als Sommelier in San Francisco lebt, und zweimal geschieden. Ihre jüngere Schwester Tereze Glück ist ebenfalls eine mit Auszeichnungen bedachte Schriftstellerin und hat als Vizegeneraldirektorin der Citibank auch eine beachtliche Karriere in der Privatwirtschaft gemacht. Glücks Nichte ist die Schauspielerin Abigail Savage.
Im vergangenen Jahr war die Schwedische Akademie kritisiert worden, weil sie mit dem Österreicher Peter Handke einen „alten weißen Mann“ ausgezeichnet hatte – Frauen sind weiterhin statistisch im Hintertreffen, genauso wie Autorinnen und Autoren aus Ländern des globalen Südens – und wegen Handkes umstrittener Haltung zum Jugoslawien-Krieg.
Keine „Sicherheitsentscheidung“
Für heuer war erwartet worden, dass man sich für jemanden entscheiden würde, bei dem oder der es nicht zu Kontroversen kommen würde. Bjorn Widman, Kulturredakteur der renommierten schwedischen Tageszeitung „Dagens Nyheter“, sagte in einem Telefoninterview mit der „New York Times“: „Die Schwedische Akademie weiß, dass sie sich keinen Skandal mehr leisten kann.“
Im Komitee für die Entscheidung sitzen auch drei externe Beraterinnen und Berater. Eine von ihnen widersprach in einer E-Mail am Mittwoch gegenüber der „New York Times“ der Darstellung Widmans: „Es ging uns nicht darum, eine ‚Sicherheitsentscheidung‘ zu treffen.“