Die Stadt kündigte in Person von SPÖ-Gesundheitsstadtrat Peter Hacker an, aus dem im Innenministerium angesiedelten Krisenstab auszusteigen. Und er warf dem Innenministerium zugleich vor, mit Falschmeldungen zu operieren. Innenminister Karl Nehammer (ÖVP), aber auch FPÖ und NEOS übten ihrerseits scharfe Kritik an diesem Schritt, die Grünen – in Wien mit der SPÖ, im Bund mit der ÖVP in einer Koalition – schwiegen.
Am Abend klang es dann etwas anders: Nun will Hacker am Freitag persönlich an der Krisenstabssitzung teilnehmen und versuchen, die Missverständnisse aufzuklären, hieß es aus seinem Büro gegenüber wien.ORF.at – mehr dazu in wien.ORF.at. In der ORF-„Elefantenrunde“ zur Wien-Wahl stellte Bürgermeister Michael Ludwig (SPÖ) klar, dass die Stadt im Coronavirus-Krisenstab bleiben werde – mehr dazu in wien.ORF.at.
9.00 Uhr vor 14.00 Uhr
Zuvor hatte Hacker die Entscheidung, keine Vertreter mehr in den Krisenstab zu schicken unter anderem mit den Zeitabläufen begründet. So hat die Österreichische Agentur für Gesundheit und Ernährungssicherheit (AGES) ihr Berichtswesen zu den Infektionszahlen umgestellt. Die Statistik (Dashboard) wird nunmehr täglich um 14.00 Uhr aktualisiert.
Die Sitzung des im Innenministerium angesiedelten Krisenstabs finde um 9.00 Uhr statt – für Hacker mitten im Tagesablauf, „wo wir die Vorbereitungen machen müssen, damit um 14.00 Uhr ordentliche Daten zur Verfügung stehen“. „Ich halte nichts davon, unsere Personalressourcen in Sitzungen zu vergeuden, statt in die Analyse zu investieren.“
Hacker spricht von „Propagandaministerium“
Darüber hinaus bezeichnete Hacker das Innenministerium als „Propagandaministerium“: „Es kommen jetzt jeden Tag irgendwelche Falschmeldungen, irgendwelche Falschstatistiken raus. Das ist wirklich mühsam. Und ich möchte, dass sich meine Mitarbeiter nicht den ganzen Tag beschäftigen mit der Falsifizierung von Falschmeldungen, sondern ihren Job machen.“
Hacker dürfte sich auf einen Bericht der „Kronen Zeitung“ bezogen haben. Diese hatte unter Berufung auf Zahlen, die sie laut eigenen Angaben vom Krisenstab des Innenministeriums erhielt, betont, Wien schaffe es beim Contact Tracing nur noch, 17 Prozent der Fälle aufzuklären. Die AGES widersprach dem laut „Kurier“. Demnach liegt die aktuelle Aufklärungsquote bei 61 Prozent.
Nehammer: „Hemmt gemeinsame Arbeit“
Kritik an dem Schritt Wiens kam postwendend von Innenminister Nehammer: „Dass Wien heute nicht einmal an der Sitzung des Krisenstabes der Bundesregierung und der Bundesländer teilgenommen hat und komplett aussteigen will, obwohl die Situation gerade in der Stadt und die heutigen Zahlen alarmierend sind, zeigt, dass es hier wenig Kooperationsbereitschaft gibt.“
Mehrere Mitglieder des Einsatzstabes hätten im Krisenstab Informationen mit der Stadt Wien austauschen wollen und hätten nicht die Gelegenheit dazu gehabt: „Das hemmt die gemeinsame Arbeit im Kampf gegen das Virus vor allem im Bereich des Contact Tracing.“
Günther Mayr (ORF) über die aktuellen CoV-Zahlen
ORF-Wissenschaftsexperte Günther Mayr über die Neuinfektionen, das Krisenmanagement und die Zustimmung der Menschen zu den Maßnahmen.
Aus Nehammers Büro wies man ergänzend darauf hin, dass im Krisenstab Maßnahmen durch tägliche Lagebilder synchronisiert würden. Wenn Wien fernbleibe, entstehe hier eine Lücke in der Informationskette.
Schon vor Beginn der Pandemie lieferten einander die Wiener SPÖ und die ÖVP, seit dem Frühjahr vor allem in Person von Hacker und Nehammer, immer wieder einen verbalen Schlagabtausch und übten Kritik am jeweiligen Gegenüber. Mit Ausbruch der Pandemie wurde dieser Schlagabtausch, der sichtlich schon auf die bevorstehende Wien-Wahl abzielte, zunächst gestoppt, flammte aber immer wieder auf – auch beim Krisenthema Pandemie.
FPÖ: „Nicht einmal in Krisenzeit vernünftige Arbeit“
Das verhinderte freilich nicht die große Empörung, die Wien abgesehen von Nehammer auch von anderer Stelle der ÖVP sowie von FPÖ und NEOS entgegenschlug. Die ÖVP-Gesundheitssprecherin Gaby Schwarz sprach von einer „unfassbaren Vorgehensweise“ angesichts des Rekordtagesanstiegs an Neuinfektionen in Wien und österreichweit. Auch der nicht amtsführende Wiener ÖVP-Stadtrat Markus Wölbitsch wertete die Entscheidung als fahrlässig und verantwortungslos.
Wiens FPÖ-Chef Dominik Nepp ärgerte sich über das „rot-schwarze Chaos“, das auf dem Rücken der Wiener Bevölkerung ausgetragen werde: „Das pechschwarze Innenministerium und die rote Stadtregierung schaffen es nicht einmal, in einer Krisenzeit eine ordentliche und vernünftige Arbeit für die Wiener zustande zu bringen.“
Für NEOS „fahrlässig“
Verständnislos reagierten auch NEOS-Wien-Gesundheitssprecher Stefan Gara sowie der Nationalratsabgeordnete Douglas Hoyos. „Wir brauchen österreichweit ein eng koordiniertes Vorgehen gegen Corona. Das bedeutet auch, dass die Bundesländer sich eng mit der Bundesregierung austauschen und absprechen müssen. Wieso Wien jetzt plötzlich die Entscheidung fällt, aus dem Krisenstab der Bundesregierung auszusteigen, ist fahrlässig“, hieß es in einer gemeinsamen Aussendung.
Keine einheitliche Datenkommunikation
Seit Monaten werden von der Bundesregierung täglich unterschiedliche Zahlen und Daten zur Entwicklung der Pandemie veröffentlicht. Am Dienstag gab es mit dem Wechsel des Dashboards zur AGES den Versuch einer Vereinheitlichung der Datenlage – das Gros der Daten wird nur noch einmal und zum gleichen Zeitpunkt – 14.00 Uhr – publiziert. Das soll die Daten leichter und besser vergleichbar machen und eine klare Zeitreihe entstehen lassen.
Die Zeitreihe – etwa über sieben Tage – gilt unter Fachleuten ohnehin als viel aussagekräftiger als Tageswerte. Einzelne Mängel, etwa der 24-Stunden-Vergleich „laborbestätigter Fälle“, will die AGES demnächst beheben. Aber trotz des neuen Dashboards werden weiterhin vom Krisensstab am Vormittag – nicht maschinenlesbar – andere Zahlen (die freilich zu diesem Zeitpunkt aktueller sind, Anm.) publiziert. Die meisten anderen Staaten haben seit Monaten eine zentrale Stelle, die die Covid-Zahlen bekanntgibt bzw. das Datenset zur Verfügung stellt.
Filzmaier: „Schaden ist angerichtet“
In einer Krise, wie sie die Pandemie darstellt, ist die transparente, klare und einheitliche Kommunikation mit und Informierung der Bevölkerung das Um und Auf. Sie muss Vertrauen in die handelnden Akteure haben, damit deren Entscheidungen auch umgesetzt werden (können). Der Politologe Peter Filzmaier betonte daher am Donnerstag gegenüber ORF.at: „Wer immer inhaltlich recht hat, kommunikationstechnisch ist das (der Schlagabtausch zwischen Wien und Innenministerium, Anm.) ein Desaster“.
Es sei die „elementarste Regel“ der Krisenkommunikation, dass man mit einer Stimme spreche. Hinter den Kulissen könne und müsse über den besten Weg diskutiert werden, aber das dürfe niemals auf offener Medienbühne passieren. Nun sei jedenfalls „der Schaden bereits angerichtet“.