Fischereiboot auf Hohersee
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Belgiens Ass im Ärmel

Deal von 1666 könnte Brexit übertrumpfen

Der Streit über den Abschied Großbritanniens aus der EU ist um eine absurde Facette reicher. In der heiklen Fischereifrage, die weiterhin ungelöst ist, meldet sich nun die belgische Region Flandern zu Wort – und legt ein Dokument aus dem Jahr 1666 vor. Dieses sieht „ewigen“ Zugriff auf britische Gewässer vor. Sollte es zu keiner Einigung zwischen der EU und London kommen, könnte das Papier – wieder einmal – schlagend werden.

Das Fischereiprivileg für die Stadt Brügge gewährt 50 Booten, in britischen Küstengewässern auf Fischfang zu gehen – und zwar für alle Ewigkeit, heißt es darin. Ausgestellt wurde das Dokument 1666 vom englischen König Charles II., als Dank für die Gastfreundschaft während seines Exils in der flämischen Stadt.

Über 350 Jahre später ist das Versprechen des damaligen Königs zum heißen Thema in der flämischen Innenpolitik geworden. Eigentlich poche man auf eine Einigung zwischen der EU und Großbritannien, was die Frage nach der Fischerei anbelange, doch: „Wenn wir keinen Deal erreichen, dann könnten wir uns auf die Charta berufen. Sie stammt aus dem Jahr 1666, wurde aber 1820 von einem britischen Anwalt bestätigt“, zitierte „Politico“ einen Sprecher der flämischen Fischereiministerin Hilde Crevits.

Kopie an EU-Chefverhandler geschickt

Und die Flamen meinen es offenbar ernst: Crevits sagte am Montag dem flämischen Rundfunk VRT, dass man „derzeit eine Flotte von 67 Fischerbooten“ habe. „Dieses Privileg könnte die Lage unserer Fischer etwas entspannen“, so Crevits. Laut „Politico“ holte die Regierung zuerst rechtlichen Rat ein und schickte dann eine Kopie des Privilegs an den Brexit-Chefverhandler der EU, Michel Barnier.

Dokument aus dem Jahr 1666
Public Domain
Eine Ankündigung aus dem Jahr 1666 weist auf das Fischereiprivileg der Stadt Brügge hin

Privileg sorgte schon in Vergangenheit für Wirbel

Es wäre jedenfalls nicht das erste Mal, dass das Dokument für gehörigen Wirbel sorgt – wenngleich in der Vergangenheit die Aufregung zwar groß, die tatsächliche Wirkung des Papiers jedoch überschaubar war. Mitte des 19. Jahrhunderts einigten sich Belgien und Großbritannien auf eine Fischereikonvention – in den Verhandlungen verwies man auf das Dokument, rechtlich geltend machte man es aus Kostengründen jedoch nicht. In dem von beiden Parteien unterzeichneten Übereinkommen wurde das Fischereiprivileg aber explizit ausgenommen und damit unangetastet gelassen.

Auch im 20. Jahrhundert war das Privileg ein Thema. Im Jahr 1963 machte sich Victor Depaepe, Bewohner von Brügge, auf den Weg, um die Gültigkeit des Dokuments zu testen. Er schickte Telegramme an die damaligen belgischen und britischen Regierungsspitzen und an Queen Elizabeth II. und informierte sie über sein Vorhaben.

Sein Boot wurde zwar vor der englischen Küste von der Marine abgefangen – zu einem Verfahren kam es jedoch nie. Wie erst Jahrzehnte später durch freigegebene Dokumente bekanntwurde, scheute man in Großbritannien offenbar die rechtliche Auseinandersetzung. Man befürchtete, das Privileg könnte vor Gericht standhalten.

Fischerei als ewige Streitfrage

Nun kommt das Papier also auch im 21. Jahrhundert zu Ruhm – hinter dem Fischereithema steckt eigentlich eines der komplexesten Probleme der künftigen Beziehung zwischen Großbritannien und der EU. Eines der zentralen Argumente, das in Großbritannien im Jahr 2016 für den Brexit Stimmung machen sollte, war die Kontrolle über die eigenen Gewässer – und auch der britische Premierminister Boris Johnson hält an diesem Ziel fest.

Fischer sortieren ihren Fang
APA/AFP/William Edwards
Die Fischerei in britischen Gewässern ist eine der zentralen Fragen im Verhältnis London – Brüssel

Bisher war es jedenfalls so, dass den EU-Staaten Rechte eingeräumt wurden, bestimmte Mengen Fisch in britischen Gewässern zu fangen. Dazu zählen neben Belgien auch Dänemark, Frankreich und die Niederlande. Ausgenommen von der Regelung ist das Gebiet bis zu zwölf Meilen von der Küste entfernt. Wer was und wie viel fischen darf, wurde bisher von den EU-Ministerinnen und -Ministern jährlich verhandelt. Laut BBC werden rund 60 Prozent der Fische (nach Gewicht) in britischen Gewässern von ausländischen Schiffen gefangen.

Zugang zum Markt als wichtiges Kriterium

Das erklärt freilich, warum Großbritannien ein Interesse daran hat, diese Quoten selbst festzulegen. Doch ein anderes Kriterium sorgt dafür, dass die Verhandlungen stocken: Die Briten exportieren nämlich einen Großteil ihres Fanges, vor allem in die EU – und würden damit enorm vom Zugang auf den Binnenmarkt der Union profitieren.

Dabei macht der Fischfang nur einen verschwindend kleinen Anteil der Wirtschaftsleistung aus – und zwar auf beiden Seiten des Kanals. In der EU und in Großbritannien beläuft sich dieser Anteil auf weit weniger als ein Prozent. Rund 200.000 Menschen sind als Fischerinnen und Fischer beschäftigt, auch das ist ein relativ kleiner Anteil auf dem Arbeitsmarkt. Doch vor allem in Küstenregionen ist Fischerei als Arbeit natürlich ein wesentlicher Faktor. Neben wirtschaftlichen Aspekten ist auch der Fischbestand selbst von großer Bedeutung – Stichwort: Überfischung –, das kompliziert die Verhandlungen zusätzlich.

Verhandlungen hätten schon abgeschlossen sein sollen

Eine Einigung ist jedenfalls noch ausständig. Fischerei ist gemeinsam mit dem Themenkomplex Staatshilfen – unter welchen Bedingungen der Staat Unternehmen unter die Arme greifen darf – die größte Hürde bei den Gesprächen über die künftigen Beziehungen zwischen Großbritannien und der EU. Die Briten sind Ende Jänner aus der Union ausgetreten, seither läuft eine Übergangsphase, in der der Großteil der bisherigen Bestimmungen aufrecht bleibt. Diese endet jedoch am 31. Dezember.

An sich hätte schon Anfang Oktober die letzte Brexit-Gesprächsrunde stattfinden sollen, damit dann auf dem EU-Gipfel, der am Donnerstag startet, die nächsten Schritte fixiert werden können. Dazu kam es jedoch nicht – ganz im Gegenteil: Johnson vereinbarte mit Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen eine Intensivierung der Verhandlungen.

Gipfelentwurf: „Sorge“ über Fortschritt

Am Wochenende kam es zu Telefonaten zwischen Johnson und Frankreichs Präsident Emmanuel Macron und Deutschlands Kanzlerin Angela Merkel. „Wir hätten lieber ein Abkommen, aber nicht um jeden Preis“, sagte EU-Industriekommissar Thierry Breton am Mittwoch dem Radiosender BFM. „Und wenn es keinen Deal geben sollte, sind wir bereit.“ Johnson selbst setzte sich ein Ultimatum bis Donnerstag, um einen Durchbruch zu verkünden. Am Mittwochnachmittag hieß es, er wolle erst das Ergebnis des EU-Gipfels abwarten.

In einem ebenfalls am Mittwoch in EU-Kreisen kursierenden Entwurf der Gipfelschlussfolgerungen heißt es unterdessen, man nehme „mit Sorge zur Kenntnis“, dass Fortschritte bei den wesentlichen Punkten im Interesse der Union noch nicht für ein Übereinkommen ausreichten. Man lade EU-Chefverhandler Michel Barnier dazu ein, die Verhandlungen zu intensivieren – mit dem Ziel einer Vereinbarung, die am 1. Jänner 2021 in Kraft treten kann.